Slums der Hoffnung

Doug Saunders
Arrival City
Karl Blessing Verlag,
München 2011, 573 Seiten


Immer mehr Menschen ziehen vom Land in die Stadt, weil sie sich ein besseres Leben wünschen. Der Journalist Doug Saunders sieht das als Entwicklungschance – für die Städte und für die Migranten.

„Ich lernte die Familie Parab an dem Tag kennen, an dem sie in die Mittelschicht aufstieg.” Sätze wie dieser haben dem kanadisch-britischen Journalisten Doug Saunders zahlreiche Auszeichnungen eingetragen. Sie machen aus einem Sachbuch ein literarisches Werk und verleihen einem Phänomen ein Gesicht: der Wanderung vom Land in die Städte und der damit verbundenen sozialen Mobilität. In der indischen Megastadt Mumbai trägt sie das Gesicht der Parabs.

Wir erleben mit, wie die vier Familienmitglieder im trüben Licht eines späten Frühlingstages erwachen, nachdem sie die Nacht auf dem Fußboden des Zimmers verbracht haben, das sechs Jahre lang ihr Zuhause gewesen ist. Sie verstauen die letzten Habseligkeiten in einem Minivan und machen sich auf in das benachbarte Viertel zu den Om-Shanti-Apartments, einem grauen Betonturm, in dem sie von nun an wohnen werden. Es ist der Weg aus den geräusch-vollen, lebhaft en Slums in die stille Isolation der Mittelschicht.

Manohar Parab stellt den neuen Fernseher auf volle Lautstärke, um diese ungewohnte Stille zu übertönen. Er kam im Alter von 14 Jahren aus einem Dorf nach Mumbai, schafft e zunächst den Übergang von Nächten auf dem Bürgersteig zum Slum. Nun, mit 52, hat er die Schwelle zu einer Wohnung mit mehreren Räumen überschritten, in der Wasser aus der Wand kommt und ständig verfügbar ist.

Saunders Buch handelt von Menschen, die aus Dörfern stammen und deren „Denken und ganzer Ehrgeiz auf das symbolische Stadtzentrum fi xiert“ sind. Er traf sie bei seinen journalistischen Reisen an den Stadträndern, meist „faszinierende, geschäft ige, unattraktive, improvisierte, schwierige Orte, bevölkert von neuen Menschen mit großen Vorhaben“. Für die Randzonen, die Übergangsräume, die Sprungbretter in die eigentliche Stadt hat der Autor den Begriff „Arrival City“ geprägt. Ankunftsstädte gibt es in Mumbai ebenso wie in Teheran, Sao Paulo, Chongqing oder Paris.

Saunders ist den Menschen an den Rändern nahe gekommen, porträtiert sie mit großem Einfühlungsvermögen. Er beschreibt sie nicht als namenlose Bewohner von übel riechenden Orten der Verzweiflung, sondern er lässt uns teilhaben an ihren Erfahrungen und ihrer Lebensenergie. Sein Buch ist ein Plädoyer dafür, sie nicht zu ignorieren, sondern in sie zu investieren. Für ihn ist die Abwanderung in die Städte eine Chance, sowohl für die Migranten als auch für die Städte, bei denen sie sich – oft illegal – ansiedeln.

Er sieht die Menschheit auf dem Weg zur urbanen Spezies und die Arrival Cities als Orte, an denen sich der nächste große Wirtschafts- und Kulturboom vollziehen kann. Folglich befasst er sich nicht damit, wie man ländliche Räume attraktiver, die Arbeit dort produktiver machen kann. Und dass der Umzug vom Dorf in die Stadt sich als Umzug von einer Form der Armut in die andere erweisen kann, tritt bei ihm zurück hinter den Elan der Menschen, die er beschreibt. Im Vordergrund stehen die Erfolgsgeschichten, die er an Orten gefunden hat, wo üblicherweise niemand danach sucht.

Seine These, dass den Wanderungsbewegungen vom Land in die Stadt ein großes Entwicklungspotenzial innewohne, ist durchaus kritisierbar. Aber selbst wenn man mit seinen Aussagen überhaupt nicht übereinstimmen würde, blieben doch die Reportagen über mehr als 20 Ankunftsstädte in Asien, Afrika, Süd- und Nordamerika, Europa. Den Bewohnern der Stadtzentren eröff nen sie einen Blick über den Tellerrand hinaus.


Anja Ruf

 

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