Wütender Angriff auf die Hilfsindustrie

Linda Polman
Die Mitleidsindustrie
Hinter den Kulissen internationaler Hilfsorganisationen

Campus Verlag, Frankfurt am Main 2010,
267 Seiten, 19,90 Euro


Die niederländische Journalistin Linda Polman hat ein zorniges Buch über Nothilfe geschrieben. Jeder Zeile merkt man an, wie wütend sie über unreflektierte Hilfseinsätze ist. Aus eigener Anschauung hat sie das Vorgehen von Hilfsorganisationen in Somalia, Haiti, Ruanda und Sierra Leone erlebt. „Die totale ethische Katastrophe“ fand sie 1994 in Goma, dem gigantischen Lager im Kongo, das Flüchtlingen aus Ruanda nach dem Genozid an den Tutsi Unterkunft bot. Wo viele Fernsehzuschauer und Spender erbarmungswürdiges Elend sahen, erkannte die erfahrene Journalistin einen Rückzugsort für Hutu-Milizen.

Laut Polman hatten die Hutu ihre gesamte Armeeausrüstung einschließlich der Mörser, Flugabwehrraketen und einiger Hubschrauber nach Goma geschafft, unterdrückten ihre Landsleute im Lager und nutzten es als Basis für Raubzüge in Ruanda. Nicht weniger als 250 internationale Hilfsorganisationen kümmerten sich um die Lagerbewohner, verteilten Zelte, Medikamente, Lebensmittel und Kleidung. Doch bis zu 60 Prozent der Hilfsgüter seien von Milizen gestohlen worden, sagt Polman.

Wer glaubt, dass kleinere Hilfsorganisationen besser funktionieren als etablierte, irrt laut Polman ebenfalls. Ein ganzes Kapitel widmet sie den so genannten „My own NGO’s“ (MONGOS). Zu diesen gut gemeinten, aber wenig professionellen Initiativen zählt Polman auch religiöse Einrichtungen, die sie für den„derzeit am schnellsten wachsenden Zweig der Hilfsindustrie“ hält. Amerikanische Pfingstgemeinden und Baptisten sind von Afrika bis Afghanistan im Einsatz. MONGOs müssen niemandem Rechenschaft über ihre Tätigkeit ablegen. In der Regel versenden sie lediglich Infobriefe an ihre Spender, in denen sie über ihre Arbeit berichten, selten aber über deren Effizienz.

Polman polemisiert gegen den Neutralitätsanspruch der Hilfsorganisationen. Sie ist der Meinung, dass in einem Krieg oder Konfl ikt jeder vereinnahmt werde. Eine wirkliche Neutralität sei nicht möglich, denn um Menschen zu helfen, müssten sich die Hilfsorganisationen mit denen arrangieren, die das Territorium beherrschen. Das ist Polmans zentrales Argument, das sie in vielen Szenen anschaulich belegt. Doch vor der letzten Konsequenz, nämlich der Forderung, die Hilfe einzustellen, schreckt auch Polman zu Recht zurück. Sie plädiert vielmehr dafür, beim Spenden mehr darauf zu achten, wem die Hilfe zugute kommt. Bürger sollten den Einsatz von Hilfsorganisationen kritisch hinterfragen. Auch Journalisten, die allzu oft auf dem Ticket der Hilfsorganisationen in Krisengebiete reisen, empfi ehlt sie mehr kritische Distanz.

Unpassend erscheint jedoch, dass die Handelnden in den Entwicklungsländern stets nur mit abwertenden Begriff en wie „Milizen“, „Rebellen“ oder „warlords“ belegt werden. Sie wirken nicht wie Menschen mit eventuell auch legitimen politischen Zielen oder Forderungen. Soziale, ethnische und historische Dimensionen von Konflikten beachtet Polman nicht. Und das Leid der Zivilbevölkerung, die von den bewaffneten Parteien als „Geisel“ genommen wird, tritt in ihrer Argumentation in den Hintergrund. Dennoch ist ihr Buch unbedingt empfehlenswert, denn es plädiert für mehr Transparenz und eine bessere Information der Steuerzahler und Spender.


Charlotte Schmitz

 

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