Letzte Stunden eines friedfertigen Aktivisten

Lyonel Trouillot:
Jahrestag
litradukt Verlag, Trier 2012,
96 Seiten, 11,90 Euro

„Du wirst dein Leben lang hin und her schwanken zwischen deinem Traum vom normalen Leben in einem normalen Land – dein unwahrscheinlichstes Schicksal – und der Kraft, den Ast, den man dir verweigert, vom Baum abzureißen.“  Solche Worte hört Lucien Saint-Hilaire überhaupt nicht gern, auch wenn sie aus dem Mund seines jüngeren Bruders kommen. Aber vielleicht ist die Realität in Haiti tatsächlich so, dass man sich entscheiden muss: Entweder mit friedlichen Mitteln für Veränderungen protestieren, wie es Luciens Art ist, oder sich wie der Bruder pragmatisch auf die Seite der Mächtigen stellen und bisweilen die Drecksarbeit für sie erledigen.

Lucien, der Erzähler der lesenswerten Geschichte „Jahrestag“, teilt gleich zu Beginn mit, dass eine pazifistische Haltung im Haiti des frühen 21. Jahrhunderts zum Scheitern verurteilt ist. Er weiß, dass er im Laufe der Studentendemonstration für einen gerechteren und demokratischeren Staat ums Leben kommen wird. Was bis dahin geschieht, rekapituliert Lucien mit großer Genauigkeit, beinahe Minute für Minute und Meter für Meter der Wegstrecke. Er bleibt nicht auf der Ebene der Fakten, sondern gibt Gespräche wieder, hält innere Zwiesprache mit seiner Mutter Ernestine, erinnert sich an Begegnungen mit Freunden, Nachbarn und imaginierten Personen.

So liefert der sanfte Aktivist eine Momentaufnahme, die viel Erhellendes über das Leben in Haiti vermittelt: Enttäuschungen, nagende Zweifel, mühsam hochgehaltene Hoffnung. Es ist Anfang Januar 2004, also 200 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung des Landes. Eigentlich ein Zeitpunkt zum Feiern und für konstruktive Kritik – das große Anliegen von Lucien und seinen Kommilitonen. Doch die Gefahr, in die sie sich begeben, ist mit den Händen greifbar.

Autor von Luciens Countdown vom Aufstehen bis zum Moment seines Todes ist der 1965 geborene Lyonel Trouillot, der als Universitätsdozent arbeitet und seit dem Jahrtausendwechsel mehrere Romane und Lyrikbände veröffentlicht hat. Trouillot sprach sich in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrzehnts öffentlich gegen das Regime des Präsidenten Jean-Bertrand Aristide aus. Diese oppositionelle Haltung nimmt auch sein literarischer Protagonist ein.

„Jahrestag“ ist nicht nur eine Geschichte über den Gegensatz von Gewalt und Friedfertigkeit. Vielmehr liefert der Text auf engem Raum mehrere Sichtweisen auf die Zerrissenheit des Landes: In Luciens Kopf streitet seine Mutter mit der „Ausländerin“, der Mitarbeiterin einer Hilfsorganisation, in die der junge Mann verliebt ist und die ihm zur Flucht aus Haiti verhelfen könnte. Ein reicher Chirurg, bei dem Lucien regelmäßig als Nachhilfelehrer arbeitet, ist sich der sozialen Spannungen bewusst, will aber das persönliche Hab und Gut gegen die Begehrlichkeiten der Habenichtse verteidigen. Hinzu kommen Ausschnitte aus den Radioreportagen von der Demonstration, die eher nach einer emotionsgeladenen Sportberichterstattung klingen als nach dem Zeugnis einer gewaltigen gesellschaftlichen Katastrophe.

Vor allem aber sind Luciens letzte Stunden von der gedanklichen Auseinandersetzung mit seinem Gangster-Bruder gekennzeichnet. Der Kleinkriminelle, den die Staatsmacht zu Handlangerdiensten heranzieht, lebt ohne Hoffnung auf bessere Lebensverhältnisse. Er nimmt sich, was er kriegen kann, und lässt moralische Erwägungen außen vor. Eigentlich ist er ein Zyniker, der jedoch angesichts der Wirklichkeit an einem Ort, dem der Stempel „gescheiterter Staat“ aufgedrückt wird, beinahe wie ein Realist klingt: „Ich pfeife auf deine Bücher und auf Ernestine, diese alte Spinnerin, auf deine Kommilitonen, auf eure vergeblichen Hoffnungen. (…) Das Leben ist wie eine Waffe, und eine Waffe schießt.“ (Thomas Völkner)

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