Nur Langeweile ist verboten

Carmen Pinilla, Frank Wegner (Hg.)
Verdammter Süden
Das andere Amerika
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014
315 Seiten, 20 Euro

Autorinnen und Autoren aus Lateinamerika erzählen wahre Geschichten aus ihren Ländern. Ihre Reportagen liefern ein erfrischend vielfältiges Bild des Kontinents.

Anthropologische Forensiker suchen nach verschwundenen Opfern der argentinischen Militärdiktatur, Migranten aus Zentralamerika versuchen verzweifelt, in die USA zu gelangen, ein Grundschullehrer in der kolumbianischen Provinz betreibt eine mobile Leihbibliothek auf Eselsrücken und versorgt seine ABC-Schützen mit Literatur.

Diese und ein Dutzend weiterer wahrer Geschichten liefert der vorliegende Reportage-Band, in dem eine junge Generation lateinamerikanischer Autorinnen und Autoren überraschende Einblicke in die Gesellschaften ihrer Länder gewährt. Die literarischen Reportagen, in Lateinamerika „crónicas“ genannt, sind unterhaltsam, investigativ, kritisch und hochpolitisch. Die crónica ist wie das cuento (Erzählung) eine spezielle Gattung der hispanischen Literatur. Ihre Historie reicht von den Chroniken der spanischen Eroberer über die Sittengemälde des späten 19. Jahrhunderts bis zu den literarischen Reportagen der modernen lateinamerikanischen Klassiker Gabriel García Márquez, Elena Poniatowski und Eloy Martínez.

Die Chronik ist „eine Erzählung, die wahr ist“, erklärte ihr Altmeister García Márquez, „eine literarische Rekonstruktion von Ereignissen oder Personen, bei der die Form die Information dominiert“, sagt der mexikanische Journalist Carlos Monsiváis. Alle Themen sind erlaubt, die Leserinnen und Leser werden sie konsumieren – vorausgesetzt, sie werden kurzweilig präsentiert. Um das zu gewährleisten, setzen Autorinnen wie die Argentinierin Leila Guerriero und die Mexikanerin Marcela Turati auf außerßergewöhnliche Blickwinkel, um mit ihren Reportagen über die Vergangenheitsbewältigung in Argentinien oder das Stranden junger Mittelamerikaner in der Wüste Arizonas die Leserinnen und Leser zu ködern.

Erstaunliche Begebenheiten, extreme Situationen

„Verdammter Süden“ liefert ein umfassendes Bild der literarisch-journalistischen Produktion der vergangenen Jahre. 13 Autorinnen und Autoren berichten von erstaunlichen Begebenheiten, seltsamen Zuständen, extremen Situationen und Landschaften oder überraschenden Personen. Sie schreiben meist für Zeitschriften, die auf Chroniken spezialisiert sind, etwa „SoHo“ und „Malpensante“ in Kolumbien, „Gatopardo“ in Mexiko oder „Orsái“ in Argentinien. Vor allem in diesen drei Ländern boomt die crónica, von dort stammen die meisten Beiträge. Oft geht es um Gewalt, Migration, das Bandenwesen und die Jugendkriminalität.

Aber die positiven Geschichten kommen nicht zu kurz: Reportagen über außergewöhnliche Menschen, das Überleben bewährter Traditionen oder erfrischenden Erfindungsreichtum machen den Charme des Buches aus. Die Auswahl der Herausgeber spiegelt die Vielfalt des Subkontinentes wider und korrigiert unser oft etwas zu negatives Lateinamerikabild. 

Klaus Jetz

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