Eine Frage des Überlebens

Die Autoren des Sammelbandes setzen sich damit auseinander, wie kleine protestantische Kirchen in Lateinamerika ihren Platz in der Gesellschaft suchen – und behaupten.

Der Fokus liegt auf den fünf Ländern des andinen Südamerikas: Chile, Bolivien, Ecuador, Peru und Kolumbien. Im Spannungsfeld zwischen einer römisch-katholischen Mehrheitskirche und den schnell wachsenden Pfingstkirchen geht es für die Mini-Diaspora der lutherisch-protestantischen Kirchen bei ihrer Rollen-, Standort- und Identitätssuche auch um die eigene Überlebens- und Zukunftsfähigkeit.

Patricia Cuyatti, die Lateinamerika- und Karibik-Referentin des Lutherischen Weltbundes, bringt in ihrem Beitrag über Peru diesen in allen Ländern des Kontinents sehr schmerzhaft verlaufenen Häutungsprozess vormaliger Einwanderer- und späterer Mittelschichtskirchen auf den Punkt. Für sie geht es darum, „entweder privilegierte Kirche zu bleiben oder den Armen zu helfen, ihren Glauben in enger Verbindung mit ihren kontextuellen Herausforderungen zu bekennen.“ Diese protestantische „Option für die Armen“ wird ebenfalls aufgegriffen in dem Kapitel über die indigene lutherische Kirche Boliviens als Teil eines plurinationalen Staates und die theologische Beschäftigung mit dem Konzept des „buen vivir“.  

Thematisiert wird zudem die Spaltung der evangelisch-lutherischen Gemeinden in Chile im November 1974, nachdem der Diktator Augusto Pinochet die Macht übernommen hatte. Hanna Schramm und Branko Nikolitsch zeichnen diesen Prozess vor dem Hintergrund der Menschenrechtsverbrechen des Pinochet-Regimes und der scheinbar unüberwindbaren Gräben einer bis heute zutiefst gespaltenen Gesellschaft nach. Die Einsicht, wie schwer es noch nach vier Jahrzehnten fällt, wieder aufeinander zuzugehen und Schuld einzugestehen, steht exemplarisch für das Verständnis zahlreicher Konfliktlinien in und außerhalb dieser Diaspora-Kirchen.

Dass eine Kirche trotz überschaubarer Mitgliederzahlen politisch wirken kann, zeigt Beatrice del Campo am Friedensprozess in Kolumbien. Immer wieder fordern die evangelisch-lutherischen Gemeinden in diesem Land in öffentlichen Stellungnahmen, dass bei dem Dialog zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla ein echter Frieden, der auf sozialer Gerechtigkeit beruht, erreicht werden muss. Und der, so verlangen sie, darf nicht auf Kosten der verwundbarsten Teile der Bevölkerung wie Indigene, Kleinbauern, Afrokolumbianer erkauft werden.

Die Autorinnen und Autoren gehen sehr offen und kritisch mit den Problemen der kleinen Kirchen um – etwa bei der Ausbildung ihres theologischen Nachwuchses oder der finanziellen Abhängigkeit von den Partnerkirchen in Europa und den USA. Nicht zuletzt diese Offenheit macht den Sammelband sehr lesenswert.

Jürgen Schübelin
 

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