Mehr als ein kurzer Spuk

Unter den zahlreichen Abhandlungen über die Terrormiliz Islamischer Staat stechen die beiden Neuerscheinungen von Loretta Napoleoni und Behnam T. Said hervor. Sie sind lesenswert für interessierte Laien – und für alle, die sich beruflich mit dem Phänomen beschäftigen.

Als der Islamische Staat (IS) vor gut einem Jahr das Kalifat ausrief, kannte kaum einer diese Organisation und von Abu Bakr al-Baghdadi, alias Kalif Ibrahim, hatten nur wenige gehört. Umso erstaunlicher ist, wie viele Bücher zum Phänomen IS heute auf dem Markt sind. Die Palette reicht von Jürgen Todenhöfers umstrittenem Report aus Mossul über Abhandlungen von Islamwissenschaftlern und Politologen bis hin zu populärwissenschaftlichen Werken mit so schlagkräftigen Titeln wie „Kalifat des Schreckens“ oder „Terror vor Europas Toren“. Viele sind mit heißer Nadel gestrickt und erzeugen vor allem eines: verständnisloses Kopfschütteln angesichts der Grausamkeit dieser zynischen Gesellen mit den schwarzen Fahnen.

Zwei Neuerscheinungen lohnt es aber, näher anzuschauen: Loretta Napoleonis „Die Rückkehr des Kalifats“ und Behnam T. Saids „Islamischer Staat“. Beide Autoren sind ausgewiesene Experten auf dem Gebiet des Dschihadismus und beide sehen im IS weder ein plötzliches Phänomen noch einen rasch vorübergehenden Spuk. Said zeigt auf, aus welcher Tradition der IS in Syrien und im Irak hervorgegangen ist, und stellt ihn in die Reihe anderer islamistischer Milizen wie al-Qaida oder der Nusra-Front. Er zeichnet Querverbindungen nach und benennt den Nährboden dieser Bewegungen: die jahrelange Unterdrückung der sunnitischen Mehrheit. Interessant sind die vielen Informationen über Einzelgruppen, Netzwerke und Drahtzieher im internationalen Dschihadismus.

Was Saids Buch von anderen IS-Abhandlungen abhebt, ist das große Kapitel über die deutsche Dschihadisten-Szene und die Syrien-Reisenden. Dabei kommt ihm seine Anstellung beim Verfassungsschutz in Hamburg zugute. Said kennt viele Einzelheiten, doch immer dann, wenn es richtig interessant werden könnte, muss er sich leider bedeckt halten. Sein Beitrag ist nüchtern, sachlich und fundiert und damit ein Buch, das nicht nur ins Bücherregal von interessierten Laien gehört, sondern auch auf den Schreibtisch von denen, die sich beruflich mit dem Dschihadismus auseinandersetzen.

Auch Loretta Napoleonis Buch über den IS sollte jeder lesen, der mehr über dessen Wesen und Ziele wissen will. Für sie hebt sich die Terrororganisation von den anderen Gruppen deutlich ab. Der IS sei über die Mythologie und Rhetorik früherer Dschihadisten-Gruppen hinausgegangen. Er habe Pragmatismus und Modernität gezeigt bei der Entwicklung von Strategien, die für den ehrgeizigen Traum der Nationenbildung erforderlich sind. „Er hat das Geschäft des Terrorismus in kurzer Zeit privatisiert und sich von seinen Geldgebern emanzipiert, indem er eine Ökonomie aufbaute, die nicht ausschließlich vom Krieg abhängt“, schreibt sie. Er habe Partnerschaften mit den lokalen sunnitischen Stämmen geschlossen, um dem Widerstand den Wind aus den Segeln zu nehmen und die Gewinne aus der Ausbeutung von Ressourcen zu verteilen. Der IS habe Umsicht und Cleverness gezeigt – was man von den Regimen al-Assads und al-Malikis nicht behaupten könne.

Im Gegensatz zu anderen islamistischen Gruppen wie der Nusra-Front habe der IS in Syrien nicht auf den Sturz des Assad-Regimes hingearbeitet, sondern das Chaos des Bürgerkriegs für den eigenen Plan ausgenutzt, ein zusammenhängendes Territorium zu erobern, in dem die Vision eines islamischen Staates Wirklichkeit werden kann. Napoleoni spart nicht mit Kritik an den Terrorexperten, die behaupten, man hätte den Aufstieg des IS nicht vorhersehen können. Anhand seiner erfolgreichen und bekannten Finanzgeschäfte hätte man das sehr wohl, schreibt die Autorin, die vor zehn Jahren eine Studie zur Ökonomie des Terrors veröffentlicht hat. Doch auch die Mainstream-Medien bekommen ihr Fett weg. Sie hätten das bewusst aufgeblähte Image der Macht al-Baghdadis und seiner Milizen weiter verbreitet und verinnerlicht, ohne diese Behauptungen überhaupt verifiziert zu haben, kritisiert Napoleoni.

Interessant sind ihre Ausführungen zum Protostaatsmodell, das der IS verfolge. Es habe in kriegsversehrten Enklaven die besten Voraussetzungen, in denen die gesamte Infrastruktur zusammengebrochen und die politische Autorität verschwunden sind. Die neuen Machthaber müssten als erstes in Infrastruktur und Wirtschaft investieren, um dann in einem zweiten Schritt von der dankbaren Bevölkerung legitimiert zu werden. Napoleoni lenkt damit den Blick weg von den barbarischen Taten zum eigentlichen Ziel des IS: der Bildung eines modernen Staates.

Im Gesamtkontext des Nahen Osten bezeichnet Napoleoni die Errichtung des Kalifats als Schlag gegen eine geopolitische Ordnung, die ursprünglich zum Vorteil des Westens und den ihm genehmen oligarchischen Eliten entworfen worden war. „Der Arabische Frühling und der Islamische Staat sind zwei Antworten auf dasselbe Problem: die korrupten Regierungen in den Staaten des Nahen Ostens.“ Offenbar sei aber das Modell der Nationenbildung, wie es der IS praktiziere, erfolgreicher als jenes des Arabischen Frühlings, konstatiert die Autorin. Sie empfiehlt, dass der Westen sich dringend damit beschäftigen müsse, was den IS bei seinen muslimischen Anhängern attraktiv macht: Schutz und Respekt in einer globalisierten, kapitalisierten Welt, in der ein arroganter Westen nach wie vor meint, das Sagen zu haben.

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