Heilen durch geteilten Schmerz

Salvador Allende, der erste demokratisch gewählte sozialistische Präsident Lateinamerikas, gilt auch 44 Jahre nach seinem Sturz durch das chilenische Militär als politische Ikone. Seine Enkelin Marcia Tambutti Allende leuchtet in ihrer Dokumentation die private Seite des Politikers aus.

Im September 1970 wurde Salvador Allende – nach seinem vierten Anlauf – als Kandidat des sozialistischen Parteienbündnisses „Unidad Popular“ zum weltweit ersten frei gewählten marxistischen Präsidenten gekürt. Sofort begann er eine Reihe von Reformen zugunsten der armen Bevölkerung. Durch die einsetzende Wirtschaftskrise geschwächt, wurde er aber schon am 11. September 1973 vom Militär gestürzt. Er erschoss sich, während die Luftwaffe den Präsidentenpalast bombardierte. Die Diktatur, die Militärchef Augusto Pinochet daraufhin errichtete, währte bis 1990. Allendes Angehörige und enge Vertraute flohen ins Exil, darüber hinaus etwa 800.000 ihrer Landsleute.

Jahre später kehrt Allendes Enkelin Marcia Tambutti Allende aus Mexiko in ihr Heimatland zurück. Sie ist entschlossen, verschüttete Erinnerungen an ihren Großvater auszugraben und Fotos, Filme, und Tondokumente aufzuspüren. Denn jenseits der Bilder von Salvador Allende als tragischem Helden unterliegt der sozialistische Politiker in der eigenen Familie offenbar einem Tabu, das auch seine Tochter Beatriz betrifft, die sich vier Jahre nach dem Umsturz im Exil wie ihr Vater das Leben nahm. „Schmerz kann sich in ein mächtiges Schweigen verwandeln und innerhalb einer Familie Tabus erzeugen“, erklärt die Regisseurin im Presseheft des Filmverleihs zu ihrem ersten Film. „Die nachfolgenden Generationen entwickeln unwissentlich eine unbewusste Selbstzensur.“ Marcia Tambutti Allende gibt sich jedoch überzeugt, dass „das Teilen von Schmerz heilen kann“. Dementsprechend befragt sie geduldig Angehörige, aber auch Freunde der Familie und andere Zeitzeugen, und lässt auch nicht locker, wenn sie zunächst wortkarg bleiben.

Vor allem Allendes betagte Witwe Hortensia, die in der Familie nur Tencha genannt wird, erweist sich sehr reserviert gegenüber der hartnäckigen Interviewerin, die immer wieder ihre persönliche Verbundenheit mit dem Großvater betont. Nur sehr zögerlich gibt Tencha, die 1988 als Symbolfigur der Opposition gegen die Pinochet-Diktatur aus dem Exil in Mexiko heimkehrte und mit 95 Jahren während der Dreharbeiten starb, einige Erinnerungen preis. So beteuert sie etwa ihre tiefe Liebe und unverbrüchliche Treue zu ihrem Mann und enthüllt, wie sie unter seinen vielen Liebschaften gelitten hat.

Nicht zuletzt solche Passagen belegen, dass die Autorin keine Hagiografie anstrebt und charakterliche Schwächen und Fehler ihres Großvaters keineswegs verschweigt. Insgesamt erscheint Allende als ein lebensfroher, kontaktfreudiger Patriarch, der gut mit Kindern umgehen kann und das Familienleben genießt, aber keinen Zweifel daran lässt, dass die Politik für ihn am wichtigsten ist, auch wenn Zeit für die Familie fehlt oder diese sogar ein Haus verkaufen muss, um Finanzlöcher nach einer zu teuren politischen Kampagne zu stopfen.

In achtjähriger Arbeit hat die Regisseurin einen Film geschaffen, der trotz mancher Längen durch die persönliche Herangehensweise einen beachtlichen erzählerischen Sog erzeugt. Da er durch den angestoßenen Dialog der Generationen offenbar eine heilende Wirkung in der Familie entfaltet, gibt er in einer Zeit mit Millionen von Flüchtlingen und Emigranten ein fruchtbares Beispiel für eine Erinnerungsarbeit im Dienste der Aussöhnung.

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