Irritierende Chronik

Wie wird ein Mensch zum Dschihadisten? Wie macht man aus Kindern Gotteskrieger? Auf der Suche nach Antworten begleitete der syrische Regisseur Talal Derki gut zwei Jahre lang einen islamistischen Milizenführer in Nordsyrien. Seine Dokumentation gibt einzigartige Einblicke in die Gedanken- und Lebenswelt radikaler Muslime.

Der in Damaskus geborene Filmemacher Talal Derki, der mit seiner Familie seit 2014 in Berlin lebt, kehrte für seinen zweiten langen Dokumentarfilm in sein Heimatland zurück. In der nordsyrischen Provinz Idlib gab er sich als Kriegsfotograf und Sympathisant der salafistischen Glaubensrichtung des Islams aus. Als solcher lebte er vom Sommer 2014 bis September 2016 in der Familie von Abu Osama, einem Anführer der Al-Nusra-Brigaden, dem syrischen Arm der Terrororganisation al-Qaida.

Derki und sein Kameramann Kahtan Hasson verfolgten in dem Rebellengebiet vor allem die Entwicklung der beiden ältesten von acht Söhnen des Milizenführers, der sein Leben der Einführung des Kalifats verschrieben hat. Den 13-jährigen Osama hat er nach dem früheren al-Qaida-Oberhaupt Osama bin Laden benannt; Namensgeber des 12-jährigen Ayman ist Bin Ladens Nachfolger Ayman al-Zawahiri. Besonders stolz ist der Al-Nusra-Kommandant darauf, dass sein Sohn Mohammad-Amar am 11. September 2007 geboren wurde, auf den Tag genau sechs Jahre nach den Terroranschlägen in den USA.

Anders als viele andere Kinder im Dorf besuchen Osama und Ayman nicht die örtliche Schule. Für sie ersetzt das Koranstudium den regulären Unterricht. Kurz nachdem der Familienvater bei der Entschärfung von Minen, die die syrische Armee überall in der Gegend gelegt hat, den linken Fuß verliert, schickt er die Söhne in ein Scharia-Camp. Dort werden sie in Tarnuniformen gesteckt, gedrillt, indoktriniert und an Schusswaffen ausgebildet. Während Osama bei der Ausbildung zum „Gotteskrieger“ engagiert mitmacht und schließlich ins Gefecht geschickt wird, kehrt der sensiblere Ayman heim, geht wieder zur Schule und betreut seine Geschwister.

Auffällig ist, dass der Film weder die Frauen noch die vier Töchter Abu Osamas zeigt. Dieser spricht nur ein einziges Mal eine seiner beiden Frauen an. Sonst sind nur jüngere Schülerinnen zu sehen. Talal Derki hält sich an die strikte traditionelle Vorschrift des Islams, dass fremde Männer keine muslimischen Frauen ansehen dürfen.

Er hütet sich auch davor, den Al-Nusra-Führer zu dämonisieren oder zu entschuldigen. Stattdessen zeigt er ihn als ambivalenten und widersprüchlichen Charakter. Einerseits baut der etwa 45-jährige Familienvater gegen Bezahlung Autobomben, bestraft seine Söhne im Fall von Ungehorsam mit körperlicher Gewalt und ist bereit, sie in den Krieg zu schicken. Andererseits kümmert er sich liebevoll um seine Kinder, nimmt sie in den Arm und scherzt auch mit ihnen. Wie dem Presseheft zum Film zu entnehmen ist, kam Abu Osama im Oktober 2018 beim Entschärfen einer Autobombe ums Leben. Er hinterlässt zwei Ehefrauen und zwölf Kinder.

Dem Regisseur, der das Geschehen zu Beginn und am Ende aus dem Off kommentiert, gelingt mit seinem Film eine irritierende Chronik. In ruhigen Bildern erhellt er die skrupellosen Methoden, mit denen radikalislamische Gruppierungen ihren Nachwuchs rekrutieren und diesen im Zuge einer ideologischen Schulung an die allgegenwärtige Gewalt gewöhnen.
 

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