Keine Angst vor dem eigenen Wort

In seiner Streitschrift erklärt Christian Bommarius, dass nicht nur staatliche Zensur die freie Rede bedroht, sondern zunehmend auch die informelle Macht von Algorithmen und fanatisierten Mobs. Dabei ist sein Buch eher anekdotisch als systematisch angelegt.

Zwei Drittel der Deutschen sind laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach überzeugt, man müsse sehr aufpassen, zu welchen Themen man sich wo äußert. Hat sich etwa die Gesetzeslage geändert? Oder sind das alles Opportunisten? Weder noch, möchte man nach der Lektüre von „Die neue Zensur“ sagen. Dahinter steckt, dass Menschen verlernen, sich mit Meinungen auseinanderzusetzen, die sie nicht teilen. Wie wichtig diese Bereitschaft ist, macht der Publizist Christian Bommarius mit einem Zitat zur Rechtfertigung der Pressefreiheit aus dem Jahr 1796 klar: „Trägheit des Verstandes und Stumpfsinn würden überhand nehmen, wenn die Menschen nicht oft durch fremde und sonderbare Meinungen angefeuert und herausgefordert würden.“

Auf welch erschreckendes Niveau der Austausch von Meinungen mancherorts gefallen ist, zeigt Bommarius am Beispiel einer Debatte im Bundestag, in der Vizepräsidentin Claudia Roth den AfD-Abgeordneten Thomas Seitz wegen geschäftsordnungswidrigen Verhaltens des Rednerpultes verweist. In den folgenden Tagen wird sie Ziel von Vergewaltigungs- und Gewaltdrohungen sowie Tausenden Hasskommentaren im Internet. Die Debatte, die sich im Netz entspinnt, zeigt: Viele Nutzer, die sich als Opfer einer Zensur durch Political Correctness sehen, treten das Recht auf freie Meinungsäußerung selbst mit Füßen, indem sie politische Gegner mit Beleidigungen, Gewaltandrohung und Einschüchterung zum Schweigen zu bringen suchen. In dieser Macht eines digitalen Mobs sieht der Germanist und Rechtswissenschaftler eine neue Form der Zensur, neben der klassischen Zensur durch den Staat. Gleiches gelte für die Macht von Google, Facebook und Konsorten, Inhalte willkürlich zu filtern, zu löschen, zu sortieren oder zu sperren. „Wäre Facebook ein Staat, wäre es eine Diktatur“, zitiert er den Journalisten Johannes Boie. Bommarius hält es daher für angebracht, das bisher nur gegen den Staat gerichtete Zensurverbot auf mächtige Internetkonzerne zu erweitern, die de facto „das Geistesleben“ lähmen könnten.

Zur geschichtlichen Entwicklung des Zensurbegriffs reiht der Autor viele interessante Einzelheiten und Anekdoten aneinander. Das macht die Lektüre spannend und kurzweilig, zuweilen fehlt aber der rote Faden. Daher sind die neun Kapitel des Buches nur nummeriert und tragen keine ordnenden Titel. Das Fazit von Bommarius: Die Bereitschaft zuzuhören sinkt, während die Klagen über eine vermeintlich um sich greifende Zensur zunehmen. Was also tun? Zum einen helfe es, bei Äußerungen im Netz dasselbe Recht anzuwenden, das gilt, wenn Menschen offline miteinander in Konflikt geraten. Zum anderen zitiert er den Dichter Peter Rühmkorf, der vorschlägt, die Angst vor dem eigenen Wort zu überwinden: „Bleib erschütterbar und widersteh.“

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