Fiktive Berichte realer Figuren

Auf der Suche nach den Anfängen des Kolonialismus im südlichen Afrika lässt Petina Gappah fiktiv die Dienstboten des schottischen Afrikaforschers David Livingstone zu Wort kommen. Die multiperspektivische Geschichte ist nichts für sensible Gemüter.

Im Mai 1873 starb David Livingstone im heutigen Sambia. Der 60-jährige schottische Missionar und Mediziner erlag der Ruhr, schon zuvor war er mehrmals schwer erkrankt. Dennoch war er Zeit seines Lebens zu immer neuen Expeditionen aufgebrochen, um die Nilquellen zu finden. Seine Bemühungen, Menschen zum Christentum zu bekehren, blieben zwar ebenso erfolglos wie seine Suche nach den Quellen. Aber er trug zur geografischen Erschließung des südlichen Afrika bei. Und anders als etliche seiner rassistischen Zeitgenossen quälte er seine Dienstboten nicht. Dennoch gilt Livingstone gemeinhin als Vorbote kolonialer Eroberung. Ebenso ambivalent erscheint heute seine Praxis, als Gegner der Sklaverei einerseits Sklaven freizukaufen und andererseits gute Kontakte mit arabischen Sklavenhändlern zu pflegen.

Die Autorin Petina Gappah wuchs in der früheren britischen Kolonie Rhodesien, dem heutigen Simbabwe, auf. Sie wollte mehr über den Mann wissen, dessen selbsterklärtes Ziel es war, „Licht ins dunkle Afrika zu bringen“. Für ihren Roman forschte die promovierte Juristin in etlichen Archiven.

Auf der Basis historischer Fakten lässt Gappah Livingstones Dienstboten fiktiv zu Wort kommen, die dessen Leiche damals über 2000 Kilometer vom Landesinneren an die Küste schleppten, damit sie von dort per Schiff nach Großbritannien verladen werden konnte.

Anschaulich berichten freigekaufte frühere Sklaven aus unterschiedlichen Gebieten Ostafrikas – laut Gappah waren es historisch 69 Menschen – von ihren Erfahrungen. So stellt die zupackende Köchin Halima das ganze Unterfangen aus der Sicht einer Frau dar. Diese wichtigste Protagonistin des Buches war als Tochter einer Sklavin in einem reichen Haushalt auf Sansibar aufgewachsen. Ihre Kindheitserinnerungen durchziehen als Rückblenden den beschwerlichen Reisealltag, dazu zählen Begegnungen mit Sklavenkarawanen. Da Halima zeitweise ein kleines Mädchen versorgt, das unter mysteriösen Umständen umgebracht wird, kommen Elternschaft, Geschlechterbeziehungen und Kommunikation zwischen den Frauen im Leichenzug zur Sprache. Thematisiert werden auch Hierarchien zwischen den Männern und die List, mit Hilfe verschiedener Notlügen die Ängste der örtlichen Bevölkerung vor Ansteckungen durch die Leiche zu mindern.

Gappah erzählt die konfliktreiche Reise aus verschiedenen Perspektiven. So widmet sie einen Teil ihres Buches Jacob Wainwright, der als Kind im heutigen Malawi versklavt und dann befreit wurde – anschließend besuchte er eine Missionsschule in Indien und erhielt dort seinen Namen. Er wurde Living­stones Assistent und leitete nach dessen Tod den Trauerzug. Aus der Sicht eines Kolonisierten, der koloniale Vorgaben übernahm und verinnerlichte, hält er als Chronist den monatelangen Fußmarsch durch unbekanntes Gebiet in seinem Tagebuch fest.

Während Livingstones Aufzeichnungen, die seine Träger ebenfalls bis an die Küste schleppten und damit der Nachwelt erhielten, wissenschaftlich längst ausgewertet sind, wurde das reale Tagebuch des gebildeten Transportleiters erst 2019 publik. Auch deshalb greift Gappah zur Fiktion, um verborgenen Stimmen mehr Gehör zu verschaffen. Wer herausfinden will, ob ihr das gelingt, sollte sich darauf einstellen, dass diese Geschichte nichts für sensible Gemüter ist.

Neuen Kommentar hinzufügen

Klartext

  • Keine HTML-Tags erlaubt.
  • Zeilenumbrüche und Absätze werden automatisch erzeugt.
CAPTCHA
Wählen Sie bitte aus den Symbolen die/den/das Segelboot aus.
Mit dieser Aufforderung versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt.
Diese Sicherheitsfrage überprüft, ob Sie ein menschlicher Besucher sind und verhindert automatisches Spamming.
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!
„welt-sichten“ schaut auf vernachlässigte Themen und bringt Sichtweisen aus dem globalen Süden. Dafür brauchen wir Ihre Unterstützung. Warum denn das?
Ja, „welt-sichten“ ist mir etwas wert! Ich unterstütze es mit
Schon 3 Euro im Monat helfen
Unterstützen Sie unseren anderen Blick auf die Welt!