Afrikanischer Blick auf den Ersten Weltkrieg

Abdulrazak Gurnah: Nachleben. Penguin Verlag, München 2022, 380 Seiten, 26 Euro 

Der aus Sansibar stammende Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah schildert in seinem historischen Roman die späte deutsche Kolonialzeit, den Ersten Weltkrieg und die nachwirkenden Traumata aus ostafrikanischer Perspektive. 

Als Abdulrazak Gurnah im Oktober 2021 der Nobelpreis für Literatur zuerkannt wurde, kannten im deutschsprachigen Raum nicht einmal Literaturkritiker seinen Namen. Nun liegt sein jüngster Roman in deutscher Übersetzung vor, der in der deutschen Kolonialzeit im damaligen Deutsch-Ostafrika – heute Tansania, Burundi und Ruanda – spielt. Gurnah erzählt darin eine Vielzahl von Geschichten, die im Zeitraum von ungefähr 1900 bis in die 1950er Jahre angesiedelt sind. Schauplatz ist meist eine kleine, namenlose Hafenstadt an der Suaheli-Küste. Ihre Einwohner gehören unterschiedlichen afrikanischen Ethnien an, auch arabische und indische Händler leben seit Generationen dort. Das Dorf kommt vor allem in Erzählungen und Rückblenden vor – aber nie romantisiert als Erinnerungsort einer glücklichen Kindheit. Denn Dörfer sind in den Erzählungen Schauplätze von Gewalt, frühem Tod durch Malaria und anderen Krankheiten, Orte des Elends und der Armut, wo Kinder weggegeben werden, weil sich die Eltern bei einem Händler verschuldet haben. 

Im Mittelpunkt des Romans steht der Erste Weltkrieg mit seiner Vorgeschichte, seinen Folgen und Traumata, die bis in die nächste Generation nachwirken. Ein Krieg zwischen den Kolonialmächten Großbritannien und Deutschland, in dem den von den Deutschen in ihrer Kolonie rekrutierten Askari auf britischer Seite Soldaten aus Njassaland, Uganda, Nigeria, Indien und von der Goldküste gegenüberstanden. 

Meisterhaft gezeichnete Figuren, unpathetische Sprache

Gurnah erzählt seinen Roman über mehrere Generationen entlang wechselnder Hauptfiguren: Da ist der stets mürrische, afrikanisch-indische Buchhalter Khalifa, der zu Skepsis gegen jedwede Obrigkeit und auch gegenüber religiösen Riten neigt. Da ist Ilyas, der als Jugendlicher auf einer Sisalplantage Deutsch gelernt hat, ein glühender Anhänger der Kolonialmacht, der noch die schlimmsten Massaker der Deutschen verteidigt und sich bei Kriegsbeginn unverzüglich freiwillig zur Schutztruppe meldet – dessen Spur sich aber gleich nach Kriegsbeginn verliert. Da ist seine kleine Schwester Afiya, die von ihrem Ziehvater verprügelt wird, bis ihr die Knochen brechen, nur weil sie Lesen und Schreiben gelernt hat. Später reift sie zu einer lebensklugen und wendigen Frau heran. Da ist Hamza, der sich immer schämt, wenn er nach seiner Herkunft gefragt wird, auch ein Kriegsfreiwilliger, aber bald desillusioniert. Da ist der deutsche Oberleutnant aus Marbach, der Schiller liebt und von seiner „Zivilisierungsmission“ in Afrika spricht, aber innerlich voller Zweifel ist. Der Hamza zu seinem Burschen macht und diesem persönlich Deutschunterricht gibt. Alle sind sie auf ihre Weise entwurzelt und heimatlos.

Gurnah versteht es auf meisterhafte Weise, ein lebendiges Bild jeder seiner Figuren zu zeichnen, als Menschen in ihren sozialen Zwängen, voller Widersprüche und Unsicherheiten. Keine seiner Figuren gerät zur Karikatur oder gar zum Stereotyp. Dabei ist die Sprache des Autors über weite Strecken nüchtern und schmucklos, auch angesichts schrecklicher Ereignisse nie sentimental oder pathetisch. Gurnah ist ein großartiger Erzähler, der sich Zeit und Raum für Abschweifungen nimmt, und man mag sich vorstellen, dass er die eine oder andere Anekdote, die er seinen Figuren im Café oder auf der Veranda in den Mund legt, als Jugendlicher selbst gehört hat. 

Allein der Schlussteil des Buches überzeugt nicht: Da rast der sonst so geduldige Autor atemlos durch die Jahrzehnte, bis in die Nachkriegs-Bundesrepublik, wohl im Bestreben, seine Leserinnen und Leser nicht mit einem offenen Ende allein zu lassen.

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