Webfehler im Gesellschaftsteppich

Necla Kelek
Hurriya heißt Freiheit. Die arabische Revolte und die Frauen – eine Reise durch Ägypten, Tunesien und Marokko
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012, 
240 Seiten, 18, 99 Euro

Am Anfang der Reise „ins Herz des arabischen Aufstands“ steht nicht zufällig eine Moschee: die Al-Azhar-Moschee in Kairo. Unter die Frauen, die sich dort im Tschador zum Mittagsgebet versammeln, mischen sich junge Ägypterinnen in Jeans und Lederjacke, über die sie Gewänder mit Kapuze ziehen. Nach dem Gebet werfen sie Flugblätter in die Luft und schreien „Allahu akbar“ und „Hurriya“, „Freiheit“. Draußen setzt sich eine Demonstration in Richtung Tahrir-Platz in Gang. Kurz nach der Kundgebung ruft der Muezzin wieder zum Gebet. „Uns wird allmählich klar, dass in diesem Land ohne Religion nichts läuft“, resümiert Necla Kelek ihre ersten Erfahrungen.


Der deutschtürkischen Soziologin, Islamkritikerin und Frauenrechtlerin macht diese Erkenntnis spürbar zu schaffen. In Tunesien wird das nicht anders. Dort stellt sie sich die Frage: „Warum sind die muslimischen Männer einander überall so ähnlich?“ Es liegt, glaubt sie, am grundsätzlichen Webfehler eines Gesellschaftsteppichs, der aus Tradition, Koran und Sunna geknüpft sei. Aber auch sie selbst wird als eine Art Webfehler betrachtet: Bei einer kontroversen Diskussion über den Islam im marokkanischen Rabat erklärt ein Student kategorisch, dass sie keine Muslima sein könne.

Islamischen Glaubens ist sie aber, nur eben nicht so wie die Menschen vor Ort. Ihre Begegnung mit ihnen wird oft zum Zusammenstoß der Welten. Im tunesischen Kairouan, für die Muslime eine heilige Stadt, flieht sie bei der Silvesterfeier im Hotel vor einer Bauchtänzerin, die um Mitternacht aus einer Torte springen soll, und gerät in eine Gruppe von – wie sie es nennt – „Mohammed-Karikaturen“: die Führung der tunesischen Salafiya sowie Scheichs aus Saudi-Arabien. Am nächsten Morgen im Frühstücksraum filmen die Männer sich gegenseitig mit dem Handy; jeder möchte ein Foto mit dem obersten Scheich auf seinem iPhone.

Bei aller Situationskomik, die Kelek mit fast überscharfem, satirischem oder feministisch-irritiertem Blick notiert, ist das Buch ein ernsthafter Bericht über Gesellschaften im Umbruch. Und zugleich eine innere Auseinandersetzung der Autorin mit der Lage der Frauen, mit der Rolle der Religion und mit der Situation der Menschen, die sie überall sehr intensiv wahrnimmt und lebendig beschreibt, auch wenn sie nicht beten oder demonstrieren. Unmittelbar ins Herz des arabischen Aufstands führt das noch nicht. Aber Necla Kelek kommt ihm vermutlich näher als eine Autorin mit anderem Hintergrund. (Anja Ruf)

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