Die Zukunft hat bereits begonnen

Die Solidarwirtschaft wächst und leidet weniger unter der aktuellen Krise als der Kapitalismus. Grund für ihren Erfolg ist die Organisation in Netzwerken, die Millionen Menschen und tausende Initiativen über Ländergrenzen hinweg verbinden. Zugleich müssen sich die Akteure der Solidarökonomie gegen den Einfluss großer Unternehmen zur Wehr setzen, die versuchen, bei der Vermarktung solidarischer Produkte in großem Stil einzusteigen.

Solidarische Netzwerke verbinden weltweit Millionen von Menschen. Ihnen gehören Tausende von Initiativen aus Produktion, Vermarktung, Konsum, Finanzen, Erziehung und technischer Entwicklung an. Das begünstigt die dynamische Entwicklung der Solidarwirtschaft, wie am Beispiel des Fairen Handels deutlich wird. Sein weltweiter Umsatz ist laut der Dachorganisation Fairtrade Labelling Organization (FLO) zwischen 2004 und 2008 um mehr als das Dreifache von 800 Millionen auf 2,9 Milliarden Euro gewachsen. Die fast 22.000 in Brasilien registrierten solidarwirtschaftlichen Unternehmen haben 2007 rund 3 Milliarden Euro Umsatz gemacht und 112 Millionen Euro investiert. Gäbe es weltweite Statistiken zur Wertschöpfung und zu den Umsätzen der verschiedenen Sektoren in der Solidarwirtschaft, dann wäre das Resultat überraschend. Die Solidarökonomie verzeichnet als sozialwirtschaftliche Alternative zum globalisierten Kapitalismus ein rasantes Wachstum.

Der hauptsächliche Grund für diese Expansion ist die Organisation der Solidarwirtschaft in  Netzwerken. In Brasilien sind fast die Hälfte der registrierten solidarischen Unternehmen an einem Netzwerk beteiligt oder in Foren zusammengeschlossen. Es gibt immer mehr Zusammenschlüsse auf nationaler und internationaler Ebene – auch zwischen den Kontinenten, wie das vierte Internationale Forum „Globalisierung der Solidarität” im Februar in Wien gezeigt hat. 

Autor

Euclides André Mance

ist Philosoph und Mitarbeiter des brasilianischen Netzwerks für Solidarökonomie (Rede Brasileira de Socioeconomia Solidária). Er betreibt die Website www.solidarius.com.br.

Wenn der Umsatz aus solidarischer Produktion und Vermarktung und der von Dienstleistungen über solidarische Banken und Finanzinstitutionen zunimmt, dann steht damit auch mehr Geld für Kredite zur Verfügung. So hat die italienische Banco Ético (Ethikbank) das Jahr 2008 mit 30.000 Teilhabern und einem Liquiditätsüberschuss von knapp 1,3 Millionen Euro abgeschlossen – ungeachtet der finanziellen Turbulenzen, in deren Folge Banken in Konkurs geganten sind oder vom Staat gestützt werden mussten. Das Spargeschäft der Bank wuchs um 16 Prozent auf 564 Millionen Euro, das Kreditgeschäft um 15 Prozent auf 429 Millionen Euro. Die Möglichkeit, solidarische Finanzinstitutionen aus Italien, Spanien und Frankreich zu vernetzen und damit eine Art Europäische Ethikbank zu gründen, kann dazu beitragen, den Sektor in Europa zu festigen. Die Akteure der Solidarökonomie müssen jedoch dem steigenden Druck der kapitalistischen Unternehmen eine Strategie entgegensetzen, um ihre Identität und historische Aufgabe nicht preiszugeben und eine solidarische und nachhaltige Organisation der Produktionsketten weiter voranzutreiben. Denn angesichts des anhaltenden Wachstums der Solidarökonomie und ihrer Glaubwürdigkeit gegenüber den Konsumenten versuchen einige multinationale Unternehmen, für ihre Produkte Fair-Trade-Siegel zu bekommen oder im großen Stil bei der Vermarktung solidarischer Produkte einzusteigen. Den Großunternehmen wurden einige Zugeständnisse gemacht. Dies hat innerhalb der Solidarökonomie eine breite Debatte über ökonomische Wachstumsstrategien ausgelöst, die zugleich die Ziele der Solidarwirtschaft berücksichtigen: nämlich die kapitalistischen Strukturen von Arbeit und Konsum, Umweltzerstörung und Konzentration des Reichtums zu überwinden.

Obwohl solche Zugeständnisse das Wachstum des Fairen Handels zwischen Nord und Süd fördern, ist es notwendig, die Produktionsketten der Solidarwirtschaft zu reformieren. In allen Bereichen müssen kapitalistische Lieferanten durch andere aus der Solidarökonomie ersetzt werden: bei der Finanzierung, der Produktion, der Vermarktung, dem Konsum, der technischen Entwicklung und bei allgemeinen Dienstleistungen. Denn wenn kapitalistische Unternehmen weiter an den neu aufgebauten Produktionsketten teilhaben, werden sie auch künftig einen Teil der Werte abschöpfen, die innerhalb der selbstverwalteten Kreise der Solidarökonomie geschaffen werden. Es geht also darum, nicht-solidarische Endprodukte und Dienstleistungen, Rohstoffe, Finanzströme, Kommunikationsleistungen, Datentransfers, Logistik und Vermarktungsaktivitäten durch solidarische zu ersetzen. Ferner gilt es, das Wachstum eines auf nachhaltigen Technologien aufbauenden Maschinen- und Werkzeugbausektors zu festigen und den Einsatz erneuerbarer Energien auszubauen.

Die Solidarwirtschaft ist bislang noch stark auf Zulieferer aus der nicht solidarischen, herkömmlichen Ökonomie angewiesen. Sie muss sich deshalb organisieren, um langfristig nachhaltig zu werden. Die Justa Trama – zu deutsch: gerechter Stoff, aber auch gerechte Vereinbarung –, ein Netzwerk aus dem brasilianischen Bekleidungssektor, liefert ein gutes Beispiel. Es integriert auf solidarische Weise diverse Etappen der Produktionskette, vom Baumwollanbau bis zu den fertigen Kleidern, und bezieht dabei etliche Unternehmen aus verschiedenen Regionen des Landes ein.

Werden beim Neuaufbau der Produktionsketten nicht solidarische und unökologische Zulieferer durch solidarwirtschaftliche ersetzt, so fließen die geschaffenen Werte wieder der Solidarökonomie zu und regen neue Aktivitäten an. Dies fördert eine nachhaltige Entwicklung und die Demokratisierung der Gesellschaft. Denn damit wächst die Zahl der selbstverwalteten Unternehmen, in denen allen Arbeitern gleiche Beteiligungs- und Mitspracherechte zugestanden werden. Anders als in kapitalistischen Unternehmen, in denen derjenige bestimmt, der das Geld hat, festigt sich im solidarwirtschaftlich organisierten Betrieb das Prinzip, dass jeder Arbeiter – der zugleich Teilhaber ist – eine Stimme hat.

Die gesellschaftliche Kraft der Solidarökonomie fördert die Demokratisierung der Wirtschaft zum Wohle aller und wird Stück für Stück auch die Politik beeinflussen. In einigen Ländern gibt es Regierungsinitiativen zur Solidarwirtschaft. Doch sollte die Solidar­ökonomie dabei als ein neues Produktionsmodell verstanden werden und nicht als bloße Maßnahme zur Arbeits- und Einkommensbeschaffung. Millionen von Arbeitern, Sparern und Konsumenten innerhalb der Solidarwirtschaft bilden eine neue soziale Klasse, die sich ihrer politischen Kraft noch nicht bewusst ist. Nur langsam wird deutlich, dass die gemeinschaftlichen Netzwerke der Schlüssel zu einer nachhaltigen Entwicklung und zu einem anderen sozialwirtschaftlichen System sind. Die Netzwerke stellen soziale Zusammenhänge wieder her und bauen die Produktionsketten neu auf.

Es liegt nahe, dass sich diese neue Art zu wirtschaften dank der ökonomischen, ökologischen und solidarischen Nachhaltigkeit weiter verbreiten wird. Sie wird das Lokale und das Globale verbinden und damit eine neue post-kapitalistische Produktionsweise stärken, die einige als Demokratischen Sozialismus bezeichnen. Dessen materielle Basis ist die Solidarwirtschaft, die partizipatorische Demokratie seine politische Ausdrucksform. Er gründet sich auf Selbstverwaltung und Nachhaltigkeit, fördert den Dialog der Kulturen, die Achtung der Menschenrechte und den Frieden zwischen den Völkern. Auf diese Weise entpuppt sich die Solidarökonomie als tatsächliche Alternative zum globalisierten Kapitalismus.

Aus dem Portugiesischen von Kirsten Bredenbeck

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erschienen in Ausgabe 11 / 2009: Anders wirtschaften
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