Hilfe ist auch ein Geschäft

Die beiden Begriffe „humanitär“ und „Geschäft“ in einem Atemzug zu nennen, wird alle irritieren, die die humanitäre Arbeit idealisieren. Denn das Adjektiv hat einen unbestritten positiven Klang, während das Substantiv in der Regel mit Profitstreben in Verbindung gebracht wird. Es steht im Widerspruch zu ihren Wertvorstellungen und ihrem Selbstbild. Das Adjektiv wurzelt in Moral und Prinzip, das Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ kommt einem in den Sinn. Das Ziel ist edel: Menschen zu helfen, deren Leben in Gefahr ist, unabhängig davon, wer oder wo sie sind oder warum sie sich in Not befinden. Wenn humanitäre Hilfe auf der höchsten Ebene der Moral angesiedelt ist, so ordnet man das „Geschäft“ eher den Niederungen zu. Geschäftsleute arbeiten in einem Bereich, in dem Geld Türen öffnet, das Gemeinwohl ignoriert wird, und in dem bei harten Entscheidungen über Gewinne die Folgen für die Menschen keine Rolle spielen.

Natürlich sind humanitäre Helfer nicht unpolitisch, und sie werden vom „Markt“ beeinflusst. In ihrer täglichen Arbeit haben sie unzählige Berührungspunkte mit der Regierung zu Hause und im Gastland, mit bewaffneten Aufständischen, mit Friedenstruppen und der örtlichen Bevölkerung – und vor allen Dingen müssen sie sich mit den Prioritäten ihrer Geldgeber auseinandersetzen. Für die Organisationen, die Mittel einwerben und verteilen, kann es von großer politischer Tragweite sein, wo und wie sie diese beschaffen und wem sie Hilfe zukommen lassen. Das gilt vor allem für Kriegsgebiete, in denen der größte Teil der Arbeit stattfindet.

Autor

Thomas G. Weiss

ist Professor der City-Universität von New York und Direktor des Ralph- Bunche-Instituts für internationale Studien. Ferner ist er Forschungs­professor an der School of Oriental and African Studies der Universität London. Anfang 2013 ist sein Buch „Humanitarian Business“ (Polity Press, 2013) erschienen.

Hilfsorganisationen beschäftigen sich wie Unternehmer mit ihrem Image und mit Marketingstrategien in einem wachsenden globalen Geschäft, das vom Wettbewerb bestimmt ist. Anbieter wetteifern um Marktanteile. Zwar ist mehr Geld als je zuvor vorhanden, doch die Ressourcen sind immer noch knapp angesichts des Leids und der Bedürfnisse, mit denen die Helfer konfrontiert sind. Für überzeugte humanitäre Helfer, die erklären, unpolitisch zu sein, und sich von der Behauptung beleidigt fühlen, sie seien es nicht, wird allein die Verwendung des Begriffs „Geschäft“ schlimm sein. Sie werden sich darüber ärgern, als Teil des „Marktes“ betrachtet zu werden, weil es beim Marketing sowohl um Produkte und Preise als auch um Vertrieb und um Werbung geht. Humanitäre Helfer konzentrieren sich darauf, das Produkt zu liefern: Nahrung, Medikamente, Obdach und Schutz. Sie sollten sich aber darüber im Klaren sein, dass das ganze Geschäft damit beginnt, „die Idee von Zurückhaltung und Mitgefühl im Krieg zu verkaufen“, wie Hugo Slim von der Universität Oxford es formuliert hat.

Neue Institutionen werden meist nach Kriegen geschaffen, in denen neue Gräuel die Menschen erschüttern und die Unzulänglichkeiten bestehender Hilfemechanismen offenbaren. Die Entstehung des modernen humanitären Systems wird auf das Jahr 1863 datiert, als Henri Dunants Entsetzen über das Blutbad bei Solferino zur Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) führte. Die blutigen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs und der russischen Revolution hatten die Gründung des Internationalen Amtes für Flüchtlinge und der Organisation Save the Children zur Folge. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden unter anderem Oxfam, die Catholic Relief Services, World Vision und CARE ins Leben gerufen sowie verschiedene UN-Organisationen und das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen. Die Bewegung französischer Ärzte – angefangen mit Médecins sans Frontières (MSF) – entstand, als kritische Mitarbeiter des Roten Kreuzes während des Nigeria-Biafra-Krieges gegen institutionelle Vorgaben des IKRK rebellierten.

Das Ende des Kalten Krieges veränderte zwar die rechtlichen und institutionellen Instrumente nicht. Doch es brachte neue Krisen und ließ lange schwelende Konflikte wieder aufflammen, die in der Ära der akuten Ost-West-Spannungen unter Kontrolle gehalten worden waren. Nach Schätzungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) haben sich die Etats humanitärer Organisationen von 1989 bis 1999 mehr als verfünffacht, von ungefähr 800 Millionen US-Dollar auf etwa 4,4 Milliarden US-Dollar. Bis 2010 stiegen sie noch einmal um das Vierfache, auf 16,7 Milliarden US-Dollar.

Die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein hat das Geschäftsmodell für die Nothilfe als „Katastrophen-Kapitalismus“ beschrieben

Bei manchen Einzelorganisationen (wie dem International Rescue Committee) oder Zusammenschlüssen (wie Oxfam und Save the Children) handelt es sich um große Unternehmen, andere dagegen sind kleine „Familienbetriebe“. Die großen UN-Organisationen haben an der Gesamtsumme einen Anteil von mehr als elf Milliarden US-Dollar. Sie reichen einen großen Teil an konkurrierende nichtstaatliche Organisationen (NGOs) weiter, die die Hilfe verteilen. Zwar ist die Zahl der UN-Organisationen nicht gewachsen, aber ihre Etats sind es; und mindestens 2500 internationale NGOs sind mit ihnen im Geschäft, auch wenn nur ein Zehntel davon wirklich von Bedeutung ist.

Um die 37.000 internationale NGOs sind an dem beteiligt, was die niederländische Journalistin Linda Polman „die Krisenkarawane“ nennt. Durchschnittlich 1000 internationale und nationale NGOs strömen heute zu jedem aktuellen Krisenschauplatz.  Ihnen steht, vor allem dank der Staaten und Steuerzahler, immer mehr Geld zur Verfügung. In den vergangenen zehn Jahren haben Regierungen geschätzte 90 Milliarden US-Dollar für humanitäre Hilfe ausgegeben. Allein 2010 stellten sie 12,4 Milliarden US-Dollar bereit, während private Spenden 4,3 Milliarden US-Dollar erreichten, verglichen mit 2,7 Milliarden US-Dollar im Jahr 2006. Hinzu kommen jährlich zehn Milliarden US-Dollar für UN-Friedenseinsätze, bei denen der Großteil der Soldaten in dieselben Länder entsandt wird, die humanitäre Hilfe erhalten.

Immer mehr Regierungen reagieren auf Katastrophen aller Art. Während Mitte der 1990er Jahre 16 Staaten Bosnien Unterstützung zusagten, nahmen 73 Staaten 2003 an der Irak-Geberkonferenz in Madrid teil, und 92 Länder reagierten auf den Tsunami vom Dezember 2004. Die OECD-Regierungen verdoppelten ihre Hilfe zwischen 2000 und 2010 nahezu von 6,7 Milliarden auf 11,8 Milliarden US-Dollar. Die Staaten, die nicht zur OECD gehören, erhöhten ihre Beiträge von 35 auf 623 Millionen US-Dollar.

Ein globaler Gesamtetat von 18 Milliarden US-Dollar im Jahr 2011 und dazu Personal, das über den ganzen Planeten verteilt ist – das würden die meisten Betriebswirtschaftler als eine große wirtschaftliche Chance betrachten. Die kanadische Globalisierungskritikerin Naomi Klein hat das Geschäftsmodell für die Nothilfe als „Katastrophen-Kapitalismus“ beschrieben. Sie sieht zwei Arten von Marktkräften am Werk: wirtschaftliche Interessen, die direkt von bewaffneten Konflikten profitieren, und die Besonderheiten der Volkswirtschaften, die von humanitärer Hilfe abhängig sind.

Laut der konventionellen Theorie der internationalen Beziehungen hängt politische Autorität von der Kontrolle über ein Staatsgebiet ab. Doch heutige Kriege folgen einer ökonomischen Logik, die die Beteiligten dazu zwingt, sich auf die Kontrolle von Schlüsselressourcen – Diamanten oder Holz – und nicht auf den physischen Raum zu konzentrieren. Der „Ressourcen-Fluch“ ist real. In vielen Kriegen ist der Handel mit solchen Ressourcen davon abhängig, dass der Konflikt fortgeführt wird, oder er wird dazu benutzt, um diesen zu schüren – oder beides. Die Gewalt und die humanitären Bedürfnisse nehmen zu.

Die Gesetze des Marktes haben Einfluss darauf, wohin Geld in Krisensituationen fließt und wie Hilfsorganisationen reagieren

Die zweite Art der wirtschaftlichen Ausbeutung ist spezieller, aber ebenfalls relevant. Es geht um die Volkswirtschaften der Länder, die von außen finanzielle Hilfe erhalten – und um diejenigen, die sich dieser Mittel bedienen, die eigentlich den Hilflosen helfen sollen. Mehr Gewalt bedeutet mehr Leid und mehr Hilfe mit mehr Möglichkeiten, davon zu profitieren. Die Arbeit in vom Krieg zerrütteten Gesellschaften birgt heikle Probleme für ausländische Hilfsorganisationen. Es ist praktisch unmöglich, nicht mit „Räubern“ zusammenzuarbeiten. Humanitäre Helfer müssen besonders darauf achten, dass sie unrechtmäßige Akteure nicht legitimieren.

Humanitäre Hilfe kann Krieg führenden Parteien einen Teil der Lasten des Krieges abnehmen, indem sie die Anforderungen an sie und die Kosten für die Opfer verringert. Die vielleicht wichtigste Erscheinungsform dessen, was früher „Korruption“ und heute „Geschäftskosten“ genannt wird, besteht darin, sich Zugang zu einem Gebiet zu verschaffen, in dem man Zahlungen an die entrichtet, die es kontrollieren. Regierungsbehörden und Warlords versuchen, einen möglichst großen Teil der Hilfsgüter für sich abzuzweigen. Schätzungen schwanken zwischen 15 und 80 Prozent; eine „Steuer“ von 25 bis 30 Prozent scheint ein plausibler Durchschnitt zu sein. Belegt ist dieser Prozentsatz für Zahlungen von Tsunami-Hilfsprogrammen an indonesische Soldaten in der Provinz Aceh, in der eine Guerilla-Gruppe operierte und humanitären Organisationen viel daran gelegen war, Zugang zu der jahrelang abgeschotteten Region zu erhalten. Ähnlich hohe Zahlungen waren zwischen UN-Vertretern und serbischen Soldaten im ehemaligen Jugoslawien üblich.

Darüber hinaus bilden UN-Organisationen und andere Hilfsorganisationen unter Umständen praktisch den gesamten Sektor, in dem Geld als offizielles Zahlungsmittel genutzt wird. Überhöhte Gehälter für Mitarbeiter im Ausland und ein entsprechender Lebensstil wirken verheerend auf die lokale Wirtschaft. Internationale Gehälter in fremder Währung sind nicht nur für Experten, Techniker und für Personen mit Sprachkenntnissen attraktiv, sondern auch für Fahrer, Wachleute, Gärtner und Hausangestellte. Bei einer Bezahlung, die zehn- bis dreißigmal so hoch ist wie der ortsübliche Lohn, melden sich Hunderte von Bewerbern, wenn Hilfsorganisationen eine Stelle ausschreiben. Der lokalen Wirtschaft gehen qualifizierte Arbeitskräfte verloren.

Humanitäre Hilfe als kommerzielle Angelegenheit zu betrachten, wird alle empören, die sie als heilende Arbeit sehen, die auf Werten, Prinzipien und Bedürfnissen basiert. Die meisten Menschen, die humanitäre Helfer werden oder an Hilfsorganisationen spenden, tun dies, weil ihnen das Leid anderer Menschen nicht gleichgültig ist – und nicht weil sie einen Gewinn erzielen wollen. Es ist jedoch kurzsichtig, die Marktdynamik des humanitären Geschäfts, bei dem es um viele Milliarden US-Dollar geht, zu ignorieren. Angebot, Nachfrage, Wettbewerb, Marktverzerrungen, Monopole, Kosten, Preis, Effizienz und Vorlieben von Investoren haben Einfluss darauf, wohin Geld in Krisensituationen fließt und wie Hilfsorganisationen reagieren. Der Markt ist nicht die ganze Wahrheit über das globale humanitäre Projekt, aber er ist ein wesentlicher Bestandteil davon. 

Aus dem Englischen von Elisabeth Steinweg-Fleckner

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erschienen in Ausgabe 5 / 2013: Wer spricht Recht?
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