Ohne Netz und dickes Kissen

Warum es besser ist, in London als in Lagos der Mittelschicht anzugehören.

Über wachsende Protestbewegungen von Bürgern der Mittelklasse in Entwicklungsländern wird gegenwärtig viel berichtet. Um ihren Ärger zu verstehen, muss man zwei unterschiedliche Schichten unterscheiden: diejenigen, die „nur“ zur Mittelklasse zählen – also nicht richtig reich sind –, und die, die ihr gerade eben angehören, also fast noch arm sind.

Wer in armen Ländern „nur“ zur Mittelklasse zählt, hat ein Problem. Denn die, denen sie nacheifern – die Wohlhabenden in ihren Ländern –, können sich selbst mit allem Nötigen versorgen. Bevor ich Mitte der 1990er Jahre Nigeria verließ, äußerte die Ehefrau eines führenden Politikers folgende Erkenntnis: Um bequem zu leben, musst du in Nigeria deine eigene Lokalregierung sein.

Autor

Sina Odugbemi

arbeitet in der Kommunikations­abteilung der Weltbank und ist Autor mehrerer Bücher.
Sie hat recht. Folgende Dienste sollte eigentlich der Staat bereitstellen, er tut es aber nicht und man muss privat dafür sorgen: Strom (kaufe dir einen Generator und betreibe ihn mit Diesel); Wasser (bohre einen Brunnen oder kaufe wöchentlich Tankwagenladungen von privaten Anbietern); Bildung (schicke deine Kinder auf private Schulen); Sicherheit (heuere private Sicherheitsleute an); Gesundheitsversorgung (gehe zu Privatärzten und Privatkliniken oder nutze Gesundheitsdienste in Übersee).

Die Liste ließe sich fortsetzen. Sie zeigt: Um in Ländern wie Nigeria komfortabel zu leben, hat man enorme laufende Ausgaben. Diejenigen, die „nur“ der Mittelklasse angehören, sind gebildet. Sie wissen, dass sie als Bürger ein Recht auf öffentlichen Dienstleistungen haben, sie aber wegen schlechter Regierungsführung nicht bekommen. Doch sie können es sich nicht leisten, für alle diese Dienste privat zu bezahlen. Dafür haben sie einfach nicht genug Geld.

"In Lagos müsste ich für diesen Lebenstil Multimilliönär sein"

Diese missliche Lage wurde mir schlagartig bewusst, als ich von Lagos nach London gezogen war. Nach einigen Jahren kaufte ich ein kleines Haus in einer neuen Vorortsiedlung. Ich beobachtete mit Ehrfurcht, wie die örtliche Regierung die Siedlung mit öffentlichen Diensten förmlich überschüttete. Als wir einzogen, wurde mir klar, dass ich für den Lebensstil, den wir in diesem kleinen Haus hatten, in Lagos Multimillionär sein müsste. In London reichte es, einen einigermaßen gut bezahlten Job zu haben und meine Rechnungen und Steuern zu begleichen; denn ich konnte dieselben Grunddienste genießen wie meine steinreichen Freunde, die ich in Lagos immer beneidet hatte. Außerdem gibt es in London erschwingliche Kredite; man kann nicht nur ein Haus kaufen, sondern auch Autos und Hausgeräte und nach und nach alles abzahlen.

In Ländern, in denen Angehörige der Mittelschicht in den Genuss solcher Vorteile kommen, sind sie nicht gezwungen, irgendwie ein enorm hohes Einkommen zu erzielen, um grundlegenden Komfort zu genießen. Ich bin nicht sicher, ob Beschäftigte in der Entwicklungszusammenarbeit wissen, wie sehr die Korruption im öffentlichen Sektor durch den Druck auf mittlere und höhere Beamte verstärkt wird: Sie müssen genug Geld verdienen, um ihre eigene Lokalregierung zu werden.

Kommen wir zu denen, die der Mittelklasse gerade noch angehören. Viele von ihnen wissen, dass ihr Status unsicher ist und nicht viel nötig ist, damit sie zurück in die Armut fallen. Sie brauchen und wünschen mehr Sicherheit und eine soziale Absicherung.

Ihre prekäre Lage hat vor allem zwei Gründe. Zum einen haben Menschen, die in die Mittelschicht aufsteigen, wenig frei verfügbares Geld – das meiste ist für feste Kosten verplant – und kaum Ersparnisse. Die Lebenshaltungskosten sind hoch und von jedem Angehörigen der Mittelklasse hängen weitere Menschen ab, aus der engeren und weiteren Familie. Wer erfolgreich scheint, wird von allen um Hilfe gebeten. Wegen dieser Belastungen kann man schnell wieder arm werden.

Kleine Geschäfte werden von unvohersehbaren Ereignissen hinweggefegt

Zum anderen treiben viele Menschen aus der Mittelschicht winzig kleine Geschäfte. Wie ihre angestellten Mitbürger haben sie keine dicken Kapitalkissen. Ihre Unternehmen können von Ereignissen, die sie weder vorhersehen noch verstehen können, plötzlich geschädigt oder komplett hinweggefegt werden: Veränderungen in der globalen Wirtschaft können Industrien treffen, denen sie zuliefern, und ihre Existenzgrundlage auflösen wie Morgennebel. Oder es trifft sie, wenn Regierungen ihre Politik plötzlich ändern. Sie werden weder gefragt noch gewarnt und haben keine Interessensverbände, die sie vertreten.

Die Unsicherheit ist vielleicht einer der Gründe, warum „Wohlstandsgebete“ von Priestern verschiedener Religionen in armen Ländern so beliebt sind. Menschen suchen offenbar göttlichen Beistand, wenn unbegreifliche Kräfte das Leben umherzuwerfen scheinen wie der Sturm den Papiermüll. Zum Glück scheinen auch Menschen, die gerade eben der Mittelklasse angehören, mehr und mehr zu verstehen, dass Regierungen die dringend benötigten öffentlichen Dienste und sozialen Sicherungsnetze bereitstellen sollten. Und sie wissen, wenn ihre Gesellschaften ordentlich geführt würden, könnten sie diese Dienste bieten.

Ich glaube, dass die Proteste der aufstrebenden Mittelschichten erst am Anfang stehen. Sie brauchen dringend gute und rechenschaftspflichtige Regierungen. Eliten, die dafür nicht sorgen, können sich auf eine Menge Ärger gefasst machen.

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erschienen in Ausgabe 10 / 2014: Hoffen auf die Mittelschicht
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