Zuhause im Ziegenhaarzelt

Nomaden wohnen traditionell in Unterkünften, die perfekt
an die unwirtlichen Umstände in der Wüste angepasst sind. Ihre Lebensweise ist zunehmend bedroht.

Mehr als ein Drittel der Landmasse der Erde besteht aus Wüste. Gleißende Sonne, Hitze, Trockenheit, Sandstürme, klirrende Kälte in der Nacht – die klimatischen Bedingungen sind extrem. Trotzdem leben hier seit Jahrhunderten Menschen mit ihren Viehherden. Sie haben sich dem Rhythmus der Jahreszeiten, den stark schwankenden Regenfällen und den spärlichen Ressourcen angepasst.

Ihren Lebensunterhalt bestreiten die meisten Gruppen mit Viehhaltung, denn die Tiere können aus knappen Ressourcen hochwertige Nahrungsmittel produzieren. Die spärlichen Weidegründe erfordern jedoch Mobilität der ganzen Familie, um Futter und Wasser für die Tiere zu finden. Manche Gruppen, die Nomaden, sind ganzjährig unterwegs, andere, sogenannte Halbnomaden, leben einen Teil des Jahres in einer Siedlung. Eine Gruppe von ihnen sind die Beduinen, die in den Wüsten des Nahen Ostens, der Arabischen Halbinsel und Nordafrika zu Hause sind.

Autorin

Meike Meerpohl

ist Ethnologin und forscht im Nahen Osten und Afrika.
Voraussetzung für ein mobiles Leben ist eine Unterkunft, die ebenso schnell auf- wie abgebaut und auf Tieren transportiert werden kann. Beduinen wohnen traditionell in einem schwarzen Ziegenhaarzelt. Es spendet Schatten, schützt vor Kälte, Wind, Sand und Staub und schafft eine Privatsphäre für seine Bewohner. Die Zelte der Beduinen werden von den Frauen hergestellt. Im Frühjahr scheren sie die Wolle der Schafe und Ziegen, spinnen sie zu gleichmäßigen Fäden und weben sie zu Bahnen.

Der Webrahmen liegt als flexible Konstruktion auf dem Boden, ist leicht zusammenzusetzen und schnell abzubauen, wenn die Wüstenbewohner ihren Lagerplatz wieder verlassen. Die Frauen weben die Zeltbahnen wie einen dicken Teppich in variierenden Längen von bis zu 45 Metern bei einer Breite von etwa 80 Zentimetern. Sie werden mit Pfosten und Leinen zu einem Zeltsystem zusammengesetzt. Holzstangen an den äußeren Ecken und als Innenpfosten werden mit Stricken und Seilen so verspannt, dass sich ein schattiger Innenraum bildet.

Die Größe der Zelte lässt sich mit zusätzlichen Innenpfosten anpassen. Ein durchschnittliches Ziegenhaarzelt hat eine Länge von vier bis fünf Metern, ein großes Zelt kann bis zu 50 Meter lang sein. Die lockere Webstruktur lässt bei Tag Licht hinein, in den heißen Tagesstunden kann der Wind zirkulieren und zugleich kann der Rauch aus der Feuerstelle im Innenraum entweichen. Bei Regen dagegen quillt die Wolle durch die Feuchtigkeit auf und macht die Außenhaut des Zeltes dichter. Das natürliche Öl der Wolle lässt das Wasser abperlen. Der Innenraum bleibt trocken und warm.

Innerhalb weniger Stunden ist das Zelt samt Hausrat eingepackt

Das Zelt, dessen Innenraum meist durch einen Vorhang zweigeteilt ist, bildet die Wohnstätte einer Kernfamilie. Der größere Raum ist tagsüber vorwiegend den Frauen vorbehalten. In diesem Bereich spielt sich das Familienleben ab, hier wird die Hausarbeit verrichtet und geschlafen. Im kleineren Bereich werden Gäste empfangen; alte Männer nutzen ihn auch als Schlafplatz. Eine Trennung zwischen privat und öffentlich wird nur dann vorgenommen, wenn männliche, nicht zur Familie gehörende Gäste anwesend sind. Die Unterteilung wird nicht als Ausgrenzung der Frauen verstanden, sondern als Zeichen des Respekts und des Schutzes.

Auch die Arbeiten sind bei den Beduinen traditionell nach Geschlechtern geteilt. Die Frauen sind für die Ziegen und Schafe verantwortlich: Sie hüten und scheren sie, produzieren aus ihrer Wolle Zeltbahnen und Teppiche, gewinnen aus ihrer Milch Käse und Joghurt, holen Wasser, kochen die Mahlzeiten und versorgen den Haushalt. Den Männern obliegt die Viehzucht: Sie hüten und trainieren die Kamele, sie gehen auf den Markt, um Produkte zu kaufen und zu verkaufen. Felder – falls vorhanden – werden ebenfalls von den Männern bestellt. Sie kümmern sich außerdem um einen neuen Siedlungsplatz, wenn die Zeit gekommen ist, weiter zu wandern – abhängig vom Zustand der gegenwärtig genutzten Flächen, ertragreicheren Alternativen sowie möglichen, weiter entfernt liegenden Wasserstellen und Weideplätzen. Ist die Entscheidung getroffen, so werden das Zelt sowie sämtliche Haushaltsgegenstände und Lebensmittel innerhalb weniger Stunden abgebaut und auf den Lasttieren verstaut.

Im vergangenen Jahrhundert hat sich das Leben vieler Nomaden stark verändert. Die Festlegung von Staatsgrenzen erschwerte die Wanderbewegungen, der Bau von Straßen und Eisenbahnen hat dem Karawanenhandel und -transport seine Bedeutung entzogen. Regierungen versuchen zunehmend, nomadische Gruppen sesshaft zu machen, um sie besser zu kontrollieren, aber auch, um ihnen einen Zugang zu Schulen und Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Aus Sicht vieler politischer Entscheidungsträger sollen Nomaden ihre „primitive“ Lebensweise zugunsten eines moderneren Lebensstils aufgeben und Staatsbürger werden.

Manche Nomaden – in weiten Teilen Afrikas – siedeln sich freiwillig in der Nähe von Städten an, andere werden im Rahmen von staatlichen Programmen dazu gezwungen. Das geschah etwa in den 1960er und 1970er Jahren in vielen Regionen des Nahen Osten, um Modernisierungs- und Entwicklungsprozesse zu beschleunigen und um die Wüsten besser kontrollieren zu können. Einige dieser Ansiedlungen, etwa im israelischen Beer Sheva oder im jordanischen Um Saihun, gleichen Reservaten. Sesshaft gemacht im urbanen Umfeld, fehlt der nomadischen Bevölkerung jegliche wirtschaftliche Grundlage. Die sozialen Veränderungen führen zu Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität bis hin zu  Alkohol- und Dogenabhängigkeit.

Nur wenigen Gruppen gelingt es, ein nomadisches oder halbnomadisches Leben fortzusetzen. Für die meisten wird es immer schwieriger, als Viehzüchter zu überleben, so dass sie gezwungen sind, sich neue Erwerbsquellen zu suchen. Neue Arbeitsplätze, die Trennung der Familien sowie der Zugang zu anderen Regionen, Gruppen und Lebensweisen beeinflussen alle Lebensbereiche der nomadischen Gesellschaften und verändern auch ihre Art zu wohnen.

In vielen Regionen dienen die Zelte nur noch als Touristen-Attraktion

Die Ziegenhaarzelte werden vielfach von mobilen, jedoch stabileren Behausungen oder festen Hütten und Häusern abgelöst. Im Zuge der forcierten Ansiedlung reduzierte sich der Bestand an Ziegen, das Ziegenhaar und die Zelte wurden teurer. Viele Beduinen waren gezwungen, ihre Zelte mit Jute und Plastikplanen auszubessern oder ganz daraus herzustellen. Die Zeltstangen wurden durch fest im Boden verankerte Balken ersetzt, der Boden wurde zementiert und die Trennwände bestehen nun aus Holz, so dass sich die Zelte immer mehr den Wohnräumen der sesshaften Lebensweise anpassen.

Der Umgang mit Nomaden in den einzelnen Staaten hängt ab von der politischen Ausrichtung der Regierung, der Größe des Landes und der Bevölkerung, den potenziellen Weideflächen sowie tribalen, regionalen oder überregionalen Konflikten. Die israelische Regierung etwa hat in Teilen des Landes das Grasen von Ziegenherden verboten, so dass die nomadische Lebensweise dort aufgegeben werden musste. In Jordanien setzt man auf mehr Kontrolle, im Sudan oder im Tschad ist eine Koexistenz verschiedener Lebensformen möglich.

In vielen Regionen des Nahen Ostens jedoch sind nomadische Behausungen wie das Ziegenhaarzelt der Beduinen mittlerweile eher ein Symbol für die traditionelle Lebensweise in der Wüste, denn in den meisten Gebieten sind die Zelte Betonsiedlungen gewichen – oder dienen vereinzelt nur noch als Attraktion für die Touristen. 

 

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erschienen in Ausgabe 2 / 2015: Wohnen: Alle ab ins Hochhaus?
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