Die Globalisierung des Staus

Auch in Afrika begünstigen die politischen Eliten den Autoverkehr. Angesichts der speziellen Verkehrssysteme dort ist das abwegig. Die weitaus meisten Wege werden zu Fuß zurückgelegt. Autoverkehr in Afrika bedeutet horrende Zahlen von Unfallopfern, dichten Smog, Dauerstau in den Städten und hohe Kosten für Treibstoffe.

Die afrikanischen Verkehrsnetze und Verkehrsstrukturen unterscheiden sich grundlegend von denen in den Industrieländern. Vor der Kolonialzeit gab es im Inneren des Kontinents nur wenige überregionale Verkehrsverbindungen. Afrika war in viele kleine Völker und Herrschaftsgebiete zersplittert, deren ökonomische Verflechtungen gering waren. Die dauerhafte Besiedlung konzentrierte sich auf die Küsten und Flussmündungen; von dort trieben zunächst arabische Siedler und später die Kolonialmächte Handel. Die Binnenwirtschaft war stark von der Subsistenz geprägt, und die kommt mit einem Minimum an Transport aus.

Auch heute dominiert in Afrika der lokale und regionale Verkehr. Europas Verkehrssystem wurde von einem hochentwickelten Städtesystem geprägt, mit intensiven wirtschaftlichen und kulturellen Verflechtungen und hoch entwickelten Verbindungen zwischen den Städten. Solche differenzierten Städtestrukturen fehlen in Afrika, wo in den meisten Ländern eine große Stadt dominiert und es daneben nur wenige andere, meist viel kleinere Städte gibt.

In der Kolonialzeit wurden in Afrika von den Küstenorten ins Landesinnere Stichstraßen und Eisenbahnen gebaut, aber kaum großräumige Netze angelegt. Die Verkehrswege dienten vor allem dazu, Exportgüter zu den Häfen zu bringen und Importware ins Landesinnere. Weil der Güter- gegenüber dem Personenverkehr dominierte, reichten eingleisige Bahnstrecken in rudimentären Bahnnetzen. Die von den Kolonialmächten gezogenen Grenzen blieben nach der Unabhängigkeit Barrieren und verhinderten den Ausbau länderübergreifender Verkehrsnetze. Auch die geringe wirtschaftliche Leistungskraft und die maroden Staatsfinanzen verhinderten die Weiterentwicklung der Verkehrssysteme. Die von den Kolonialmächten übernommene Infrastruktur verfiel – besonders die Bahnstrecken, Bahnhöfe und Bahnfahrzeuge.

Autor

Heiner Monheim

lehrt Raumentwicklung und Landesplanung an der Universität Trier.

Das hatte auch mit dem weltweiten verkehrspolitischen Trend von 1960 bis 1990 zu tun. Fast überall gab es einen Rückzug der Bahnen. Priorität hatten der Ausbau der Straßennetze und Massenmotorisierung. Dem folgte auch Afrika, zumal die Weltbank und die Entwicklungspolitik lange bei der Automobilisierung halfen. Für die Bahnen hieß das Stilllegung unrentabler Strecken und Privatisierung des Restes. In Uganda ist der Personenverkehr inzwischen fast ganz eingestellt, in Kenia sind viele Teilstrecken stillgelegt. Neuerdings gibt es wieder mehr Interesse am afrikanischen Schienenverkehr, aber dann geht es um transafrikanische Netze und den Güterverkehr, der Nah- und Regionalverkehr werden kaum beachtet.

Die afrikanischen Verkehrsetats konzentrieren sich auf den Ausbau einiger Schnellstraßen in den Metropolen, um den Staatskarossen und den Limousinen der Eliten wenigstens etwas „Auslauf“ zu bieten. Die Unterhaltung und Erweiterung der Netze im Rest der Länder wird sträflich vernachlässigt, die Erreichbarkeiten vieler kleinerer Städte und peripherer Regionen ist weiter schlecht. Zumal die Klima- und Bodenbedingungen den Bau und die Unterhaltung von Allwetterstraßen schwierig machen. Die Straßenoberflächen müssen extreme Hitze und Starkregen aushalten. Beschleunigt wird ihre Zerstörung durch den Einsatz von 60 Tonnen schweren Riesenlastern, die in kürzester Zeit selbst aufwändig erneuerte Straßen kaputt fahren. Unter diesen Bedingungen sind die Behörden in weiten Teilen Afrikas nicht in der Lage, außerhalb der Hauptstadtregion für akzeptable Straßen und Wege zu sorgen.

Skandalös ist die Behandlung des nichtmotorisierten Verkehrs. In Afrika werden 70 bis 85 Prozent aller Wege zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückgelegt. Trotzdem gelten der Fuß- und Fahrradverkehr als antiquiert und den Fahrverkehr störend. Das ist deswegen besonders töricht, weil sie nur wenig Anforderungen an die Infrastruktur stellen – mit wenig Aufwand kann man hier große Effekte erreichen.

Beim Gehen werden oft Lasten getragen. Vor allem Frauen balancieren die Ernte, die Wasserbehälter oder die Marktwaren auf dem Kopf. Bis zu insgesamt 35 Tonnen trägt eine afrikanische Frau pro Jahr. Da ist leicht nachvollziehbar, wie wichtig es für die Zeitökonomie von Frauen sein kann, ihnen für den Lastentransport Fahrräder zur Verfügung zu stellen, wie es das FABIO, das First African Bicycle Information Office in Jinja (Uganda), erfolgreich tut.

Zu Fuß legt man große Entfernungen zurück, vor allem auf dem Land und am Stadtrand. Tägliche Gehleistungen von 20 bis 30 Kilometer sind keine Seltenheit. Vor allem Schulkinder und Frauen müssen auf den Dörfern oft extrem lange Wege gehen. Gehen dient zudem fast immer auch der Kommunikation: Man geht in Gruppen zur Schule, zur Fabrik, zum Markt oder zur Wasserstelle. Das bedeutet, die Verkehrsplanung müsste das Gehen als wichtigste und sozialste Art des Verkehrs ernst nehmen und in den Ausbau und die Unterhaltung ländlicher Wege sehr viel mehr investieren. Die herkömmliche westliche Fußverkehrsplanung ist jedoch unangemessen: Der klassische Bürgersteig ist für die in Afrika übliche Art des Gehens viel zu schmal, zumal der Straßenrand auch als Verkaufsfläche für fliegende Händler oder für das informelle Handwerk genutzt wird.

Der Fahrradverkehr spielt in weiten Teilen Afrikas eine deutlich geringere Rolle als der Fußverkehr. In den islamischen Ländern ist er wenig verbreitet und wenn, nehmen nur Männer an ihm teil, Frauen auf dem Fahrrad gelten als unmoralisch. Südlich der Sahara ist das Fahrrad weiter verbreitet, vor allem auf dem Land und in Kleinstädten; hier gibt es aber große regionale Unterschiede. Ugandas Süden und Osten ist ein ausgesprochenes Fahrradgebiet. In Kenia liegen die Fahrradhochburgen im Westen, zum Beispiel Kisumu und Busia. Neuerdings wird auch Nakuru mit seinen 400.000 Einwohnern zur Fahrradstadt, hier haben die Boda-Boda genannten Fahrradtaxen eine rasante Entwicklung genommen (siehe Kasten). Fahrradtaxen können bis zu zwei Erwachsene oder einen Berg von Lasten befördern, und das zu attraktiven Tarifen.

Das Fahrrad dient in Afrika selten als Sport- und Freizeitgerät, sondern vor allem als Betriebs- und Transportmittel. Westliche Globetrotter, die Afrika per Rad bereisen, werden immer wieder wie ein Weltwunder bestaunt. Auf kleinen Pfaden ist der Einsatz von Handkarren oft nicht möglich, aber ein beladenes Fahrrad kann man dort immer noch schieben. Händler nutzen es als mobilen Verkaufsstand, Fahrradambulanzen dienen auf dem Land dem Krankentransport, Hebammen oder Krankenschwestern vergrößern mittels Fahrrad ihren Aktionsradius. Daher werden andere Räder gebraucht als bei uns: Sie müssen stabil sein und dürfen 25 bis 30 Kilo wiegen, denn sie sollen maximale Zuladung tragen können, auch auf schlechten Straßen. Eine afrikanische Fahrradpolitik müsste dringend eine eigene afrikanische Fahrradindustrie aufbauen, weil die Importfahrräder nur bedingt für Afrika taugen – auch die vorherrschenden chinesischen und indischen Typen. Unverständlich ist, wie wenig politische Aufmerksamkeit das Fahrrad in den meisten afrikanischen Ländern erhält. Lange haben viele auf den Import von Fahrrädern hohe Luxuszölle erhoben, aus der Sicht der afrikanischen Eliten handelte es sich um ein antiquiertes Verkehrsmittel.

Auch der öffentliche Verkehr ist in Afrika grundlegend anders organisiert als in der westlichen Welt. Der Busverkehr dient immer auch dem Gütertransport: Die Reisenden verstauen riesige Mengen von Gepäck auf dem Dach oder in den Bussen selbst. Wo die öffentliche Hand in den großen Städten Linien mit Standardbussen und Kleinbussen anbietet, sind sie auf Korridore fixiert und grobmaschig mit wenigen Haltestellen. Oft kommen alte Schulbusse zum Einsatz, die höchstens zwei schmale Türen haben und daher wenig effektiv arbeiten. In vielen Städten operieren mehrere Linienbusanbieter nebeneinander, die sich weder bei Fahrplänen noch bei den Tarifen vernetzen. Dafür spielen informelle Sammeltaxen und Sammelbusse eine große Rolle. Sie heißen je nach Land Matatus, Dalla-Dalla oder Tuk-Tuk und nutzen meist Kleinbusse japanischer Produktion, manchmal – vor allem auf dem Land – auch Pick-ups oder LKW mit Fahrgästen auf der Ladefläche. Sie decken mit ihrem flexiblen Einsatz große Flächen ab. An zentralen Punkten sammeln sich unzählige Kleinbusse in chaotischer Anordnung, in der Fremde jede Orientierung verlieren. Sie fahren erst ab, wenn der Fahrer glaubt, eine ausreichende Belegung erreicht zu haben. Es gibt keine klare Halteplatzordnung, keine richtigen Liniennetze,  keine Fahrpläne und keine klaren Tarife. In vielen Ländern fahren Matatus überbelegt mit geringem Sicherheitsniveau.

Der private Autoverkehr hat nur einen sehr geringen Anteil an der Verkehrsleistung in Afrika – er ist ein Privileg der Reichen. Dennoch dominiert er eindeutig die verkehrspolitischen Prioritäten. Vor allem in den Hauptstadtregionen wird viel in den Ausbau moderner Straßennetze und des Parkraums investiert. Das macht es leider immer weniger wahrscheinlich, dass die Begrenzung des Autoverkehrs politische Akzeptanz findet. Und eine wichtige Rolle spielt natürlich der Straßengüterverkehr. Zwar ist sein Anteil an den einzelnen Transporten gegenüber denen zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit Handkarren und Lasttieren marginal, aber sein Anteil an der Transportleistung – also dem Produkt aus Gewicht und Distanz – ist sehr groß.

Das Ergebnis ist die schnelle Zunahme von Staus in den großen Städten und auf den Hauptfernstraßen. Eingesetzt werden viele alte, nicht mehr verkehrssichere Fahrzeuge – vor allem gebrauchte japanische Autos, aber auch viele europäische Altautos. Auch Busse und Matatus sind vielfach in schlechtem technischem Zustand. Ihr Energieverbrauch liegt bezogen auf die Kilometerleistung extrem hoch. Die Umweltbedingungen in den Städten verschlechtern sich rapide – Smog ist allgegenwätig, die Lärmbelastungen sind extrem. Ein großer Teil der Devisen muss für den schnell steigenden Benzinverbrauch aufgewendet werden.

Afrika ist weltweit der Kontinent mit der mit Abstand höchsten Unfallbelastung – die Unfallraten sind im Schnitt hundert mal höher als in der westlichen Welt. Das liegt an dem weitgehend unregulierten, chaotischen Autoverkehr, der unsicheren Fahrzeugflotte und unzureichend ausgebildeten Fahrern. Auch das sehr schadhafte Straßennetz, der Mangel an Straßenbeleuchtung sowie das schlecht entwickelte Rettungswesen tragen zur hohen Zahl der Unfallopfer bei. Hinzu kommt, dass Kinder sehr früh selbständig am Verkehr teilnehmen und dabei oft Unfallopfer werden.

Das Unfallproblem wird aber weitgehend verdrängt. Afrikanische Verkehrspolitiker setzen auf das in den hochmotorisierten Ländern vor 60 Jahren entwickelte Separationsprinzip, wonach dem Kraftverkehr eigene Fahrbahnen und hohe Geschwindigkeiten gesichert werden sollen. In Europa wird das Separationsprinzip zunehmend in Frage gestellt, statt dessen fordert man Verkehrsberuhigung, Tempolimits und gemeinsam genutzte Verkehrsräume (shared space). Aber solche autokritischen Strategien sind in Afrika mit seiner jungen Motorisierung und starken Autofixierung der Eliten einstweilen schwer durchsetzbar.

Eine weniger autofixierte Verkehrspolitik braucht andere Prioritäten. Fuß- und Fahrradverkehr sollten viel höhere Bedeutung bekommen, Busse und Bahnen müssen mit einfachen, kostengünstigen Maßnahmen ausgebaut werden. Der Autoverkehr muß begrenzt werden. Im Interesse einer ausgewogenen Regional- und Verkehrsentwicklung dürfen die Metropolen in Afrika nicht alle Verkehrsinvestitionen auf sich vereinen.

Bahnen könnten mit leichten Triebwagen, vielen breiten Türen für schnelles Umsteigen, niedrigen, kostengünstigen Bahnsteigen und einfacher Betriebsführung auch in Afrika im Nahverkehr erfolgreich werden. Dafür sind aber mehr zweigleisige Strecken oder mindestens mehr Kreuzungs- und Begegnungsstellen im Umfeld der Städte nötig, um einen Taktverkehr einführen zu können. Außerdem braucht man in Gebieten mit hoher Einwohner- oder Arbeitsplatzdichte viele neue Haltepunkte. Außerhalb der Metropolen sollen sie den regionalen Verkehr bedienen.

Um die Leistung des öffentlichen Verkehrs zu steigern, müssen lokale und regionale Verbünde geschaffen werden – mit einheitlichen Tarifen, Liniennetzen und Fahrplänen. Zudem muss man Busse aus dem Stau holen und deutlich schneller als den Autoverkehr machen – etwa mit Busspuren. In Südamerika und Asien ist dafür das Bus Rapid Transit System (BRT) entwickelt worden, das nun auch für immer mehr afrikanische Städte diskutiert und in Dar es Salaam und Johannesburg erstmals angewandt wird. Die Voraussetzungen für BRT-Achsen sind allerdings in vielen afrikanischen Städten schlecht, weil die Straßen in den Innenstädten eng und verwinkelt sind. Dort bliebe entweder die Option für exklusive Busstraßen. Oder man kann ähnlich wie in südamerikanischen und nordafrikanischen Städten mit urbanen Seilbahnsystemen neue Verbindungen schaffen, die sehr kostengünstig und außerdem platzsparend sind und für die man keine breiten Schneisen durch die Bebauung schlagen muss.

Man muss darüberhinaus die große Bedeutung der Matatus angemessen berücksichtigen. Es geht nicht darum, sie aus dem Markt zu drängen. Vielmehr sollten sie durch eine Steigerung der Gesamtnachfrage im öffentlichen Verkehr größere Marktchancen erhalten. Die Einführung von BRT-Systemen muss gut vorbereitet werden, denn sie kann leicht auf Widerstand der Matatu-Lobby stoßen. Optimal wäre, wenn Matatus als Quartiersbusse in der Stadt sowie als Orts- und Landbusse auf dem Land die Hauptrouten ergänzen würden. Das setzt aber voraus, dass das insgesamt auch für sie ein lukratives Geschäft ist. Noch besteht die Chance auf eine nachhaltige Verkehrsentwicklung für Afrika – aber nur, wenn man anstelle westlicher Modelle eigene Wege findet.

 

Zusatzinformationen

Literaturtipp:

Khayesi, Monheim, Nebe (2010): Negotiating „Streets for All“ in Urban Transport Planning. In: Antipode. A Radical Journal of Geography. Vol. 42, S. 103-126

erschienen in Ausgabe 3 / 2010: Mobilität - Die täglichen Wege
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