Streit um das islamische Recht

Syrien
Syrische Rebellen sprechen Recht in von ihnen beherrschten
Gebieten. Dabei haben islamistische Gruppen unterschied­liche Vorstellungen davon, was verboten und erlaubt sein sollte und wie eine neue Ordnung durchzusetzen ist.

Am 28. März dieses Jahres eroberten syrische Rebellen die Stadt Idlib, angeführt von Al-Qaidas syrischem Ableger, der Al-Nusra-Front, und den salafistischen Hardlinern von Ahrar al-Sham. Der Sieg in Idlib könnte den Aufstand nach einer längeren Zeit des Stillstands und interner Machtkämpfe wieder beleben. Idlib ist erst die zweite Provinzhauptstadt, die dem Regime abgerungen wurde. Es ist jetzt die größte Stadt, die von Rebellen kontrolliert wird, welche nicht mit der Terrororganisation Islamischer Staat (IS) verbunden sind.

Die Eroberung ist militärisch wichtig. Aber ebenso bedeutend für den weiteren Verlauf des Konflikts ist, wie die Rebellen die Stadt regieren werden. Sowohl die Al-Nusra-Front als auch Ahrar al-Sham haben in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein auf Rechtsprechung basierendes Regierungssystem eingeführt. Jetzt aber müssen ihre unterschiedlichen Rechtsauffassungen überein gebracht werden, damit der Kampf um Idlib – und die Seele des Aufstands – nicht weiter zu einem schädlichen Streit um Gebietsansprüche verkommen.

Ahrar al-Sham und die Al-Nusra-Front sind im Kampf zwar eng verbündet und teilen die Vision eines strengen und antidemokratischen islamischen Staates in Syrien. Doch in der Rechtsprechung gehen ihre Positionen auseinander. Grundlage dieser Konkurrenz sind zwei unterschiedliche Systeme der Justiz: einerseits Dar al-Qada, ein Netz von Gerichtshöfen, das die Al-Nusra-Front im Sommer 2014 in den Provinzen Idlib, Aleppo und Hama etablierte; andererseits die von Ahrar al-Sham unterstützte Islamische Kommission von Idlib, die im restlichen Teil der Rebellenhochburg in Nordsyrien herrscht. Dar al-Qada ist das am weitesten verbreitete, umfassendste und strengste Rebellen-Gerichtssystem in den Teilen Syriens, die außerhalb der vom Islamischen Staat kontrollierten Gebiete liegen. Beide zusammen, Dar al-Qada und die Islamische Kommission, sind die wichtigsten Konkurrenten des kompromisslosen und brutalen Rechtsverständnisses, das der Islamische Staat im Osten Syriens eingeführt hat.

Die Al-Nusra-Front schlägt einen puristischen Kurs ein

Bevor die Al-Nusra-Front Dar al-Qada etablierte, waren die als Scharia-Kommissionen bekannten Gerichtshöfe die am weitesten verbreitetste Form der Rebellen-Gerichtsbarkeit im Norden Syriens. Bewaffnete Gruppen, die von salafistischen Dschihadisten wie der Al-Nusra-Front bis hin zu moderaten, mit der Muslimischen Bruderschaft verbundenen Gruppen reichten, arbeiteten zusammen, um mit Hilfe der Scharia-Kommissionen in den Rebellengebieten das Gesetz durchzusetzen. Kompromisse waren das Gebot der Stunde: Die meisten Kommissionen wandten eine abgeschwächte Version des ungeschriebenen islamischen Rechts an, die die Mehrzahl der Hardliner und Gemäßigten zufrieden stellte. Einige Gerichte stützten sich auf den sogenannten Unified Arab Code, eine einheitliche kodifizierte Version des islamischen Gesetzes. Viele Hardliner halten den Code allerdings für unvereinbar mit religiösen Vorschriften, die es verbieten, die verschiedenen und auslegbaren Bestandteile der islamischen Rechtsprechung in feste, schriftliche Regeln zu fassen.

Die Entstehung Dar al-Qadas datiert auf den Juli 2014, als die Al-Nusra-Front sich aus den gemeinsam mit anderen geführten Scharia-Kommissionen zurückzog. Der Führer der Front, Abu Muhammad al-Jolani, verwies auf die Schwierigkeit multilateraler Justiz und beklagte, die Zahl der Visionen darüber, wie eine islamische Regierung zu erreichen ist, habe sich vervielfacht. Die an den Scharia-Kommissionen beteiligten Parteien hätten zu streiten begonnen und so den Kommissionen geschadet.

Der Ausbau von Dar al-Qada zur wichtigsten Rebellen-Gerichtsbarkeit im Norden Syriens ist ein zentraler Bestandteil des harten Richtungswechsels der Al-Nusra-Front – hin zu einem puristischen Kurs, einer strengeren Interpretation des islamischen Rechts und zur Verdrängung nicht islamistischer Rivalen. Man habe beschlossen, eine strengere Alternative zu den Scharia-Kommissionen zu schaffen, bestätigt Al-Jolani. Denn in den Kommissionen hätten einige Beteiligte versucht, Gesetze anzuwenden, die dem menschgemachten Strafrecht ähneln. Das, so Al-Jolani, habe man nicht zulassen können. „Wir müssen das Vakuum füllen und diese Leute davon abhalten, die Menschen mit menschengemachten Gesetzen zu regieren.“ Die Al-Nusra-Front nutzt Dar al-Qada als Werkzeug, um ihre Kampagnen gegen vom Westen unterstützte bewaffnete Gruppen zu rechtfertigen, die sie als „Kriminelle“ und „Verführer“ bezeichnet. Der Aufstieg von Dar al-Qada hat die gemäßigten Gerichtshöfe an den Rand gedrängt. Syrische Juristen, die an Gerichten moderaterer Gruppen arbeiten, sind frustriert, dass sich die salafistischen Hardliner-Gerichtshöfe so schnell ausbreiten. Sie beruhen ihrer Ansicht nach auf einer willkürlichen Anwendung ungeschriebenen Rechts und missachten Standards moderner Rechtsprechung. Rechtsanwalt Muhammad Khalil etwa hilft, ein unabhängiges Gericht nördlich von Aleppo zu führen.

Eines Tages wurde er gebeten, mit Dar-al-Qada-Mitarbeitern im nahe gelegenen Hraytan zu arbeiten. „Mir fiel auf, dass in zahlreichen Fällen Angeklagte aufgefordert wurden, ihre Unschuld zu beweisen, nur weil eine Anklage gegen sie vorlag und noch bevor der Kläger einen Beweis vorgelegt hatte“, erzählte er. Das kehre die Beweisregeln um, da der Prophet Mohammed gesagt habe, die Beweislast liege beim Kläger.

Verprügeln oder Foltern nur noch auf Anordnung der Vorgesetzten

Juristen wie Khalil und viele Zivilisten haben diese Mängel kritisiert und ebenso einige der strengen Strafen, die Dar al-Qada verhängt hat. Eine der ersten bekannt gewordenen Aktionen von Dar al-Qada war im August 2014 die öffentliche Auspeitschung eines Mannes, der die Religion verflucht haben sollte – ein Verbrechen, das auch hätte mit dem Tod bestraft werden können, wenn der Mann nicht so schnell Reue gezeigt hätte. Diese Strafe erregte in Oppositionskreisen die Gemüter, weil syrische Rebellen, die nicht zum IS gehören, bis dahin keine derlei drastische Urteile verhängt hatten, weil sie allgemein als an Extremismus grenzend galten. Später schockierten Dar-al-Qada-Kader viele Leute, als sie in einem ländlichen Gebiet in der Provinz Idlib in nur einer Woche zwei Frauen öffentlich wegen Prostitution erschossen.

Die Al-Nusra-Front und Dar al-Qada haben indes ein gewisses Verständnis für lokale Empfindsamkeiten an den Tag gelegt, um den Rückhalt  in der Öffentlichkeit nicht zu verlieren.  Der Zweig von Dar al-Qada in Hraytan beispielsweise ordnete im vergangenen Februar an, „professionelle Untersuchungsmethoden“ anzuwenden, und verbot, verhaftete Personen zu verprügeln oder zu foltern, „außer aufgrund schriftlicher Anordnung durch den Chef der Zweigstelle oder des maßgeblichen Richters“. Zudem informierten die Gerichte die Öffentlichkeit bewusst über Fälle, in denen sie Kämpfer der Al-Nusra-Front verurteilten, um der Öffentlichkeit zu beweisen, dass auch Mitglieder bewaffneter Gruppen zur Rechenschaft gezogen werden. Dar al Qadas bedeutendste Herausforderer sind weiterhin die noch bestehenden Scharia-Kommissionen. Die wichtigste ist die Islamische Kommission von Idlib, ein Gerichtsnetzwerk, hinter dem einer der engsten und mächtigsten Partner der Al-Nusra-Front  steht, die salafistische Gruppe Ahrar al-Sham.

Im Vergleich zu Dar al-Qada ist die Rechtsprechung der Islamischen Kommission weniger streng und stärker an Zusammenarbeit orientiert. Laut Abd al-Rahman al-Ahmad, einem Sprecher der Kommission, wendet sie anders als Dar al-Qada den Unified Arab Code an. Dementsprechend setzt die Kommission bei gewöhnlichen Verbrechen wie Diebstahl und Körperverletzung stärker auf Geldbußen und kurze Gefängnisstrafen. Zudem verzichtet sie auf einige schärfere Regeln, die in den von Dar al-Qada regierten Gebieten zur Norm geworden sind – etwa die erzwungene Bekehrung religiöser Minderheiten, das Verbot unabhängiger, vom Westen unterstützter Polizeieinheiten oder von Billardsalons und Computerspielen.

Berichten von Syrern in Idlib zufolge ist die Islamische Kommission in allen Fragen weniger streng, sei es beim Thema Moscheebesuch, sei es bei anderen kleineren Verstößen wie dem Rauchen, das Dar al-Qada an einigen Orten vollständig verboten hat. Die Islamische Kommission führt auch weniger Exekutionen durch und verfolgt angeblich „korrupte“, vom Westen unterstützte bewaffnete Gruppen weniger stark. Zudem verteidigt sie die von ihr kontrollierten Gebiete gegen die Einmischung anderer Kräfte und hat so verhindert, dass Dar al-Qada und Kämpfer der Al-Nusra-Front in sämtlichen von den Rebellen kontrollierten Regionen ein juristisches Standbein aufbauen konnten.

Die Position der Islamischen Kommission zu Dar al-Qada gründet laut Al-Ahmad auf gegenseitigem Respekt und der Akzeptanz unterschiedlicher Zuständigkeit. Während Dar al-Qadas Dschihad-Regierungsführung eher auf Zwang setzt, sucht die Islamische Kommission einen Mittelweg, der im Einklang mit Ahrar al-Shams stärker schrittweisem Aufbau eines islamischen Staates und einer islamischen Gesellschaft steht. Laut Ahrar al-Sham und der Islamischen Kommission haben die Menschen in Syrien, die seit 1963 unter der Diktatur der nominell säkularen Baath-Partei leben, das Wissen über ihre wahre Religion verloren. Daher müsse man vermeiden, zu schnell zu viel Wandel durchzusetzen. Die Islamische Kommission sieht es als Teil ihres Auftrags, diesen Übergang zu gestalten.

Der Zusammenbruch der multilateralen Scharia-Kommissionen und der Aufstieg von Dar al-Qada und der Islamischen Kommission unter dem Banner verschiedener bewaffneter Gruppen markiert einen vorläufigen Höhepunkt in der Konkurrenz zwischen diesen beiden Visionen. Dabei geht es weniger um die Frage der „korrekten“ Interpretation islamischen Rechts, sondern eher um den besten Weg, von der Öffentlichkeit als legitim anerkannt zu werden. Die Interaktion zwischen den beiden Gerichtssystemen in der nächsten Zeit wird zeigen, inwieweit die Al-Nusra-Front und Ahrar al-Sham zwei sich ergänzende Ansätze islamischer Regierungsführung vertreten oder aber sich gegenseitig in Schach halten.

Diese Frage wird wohl in Idlib entschieden werden. Die Regierungsform, die sich in dieser Stadt durchsetzt, wird wahrscheinlich zum Maßstab künftiger Rebellengerichtsbarkeit werden. Es gibt bereits Anzeichen dafür, dass sich beide Gruppen einander annähern.

Autor

Maxwell Martin

ist Analyst und Autor mit Sitz in Washington D.C. Er arbeitet für das Stabilisation Network, eine Beratungsagentur für Sicherheits­fragen in London.
Abdullah al-Muheisini, ein bekannter und sehr populärer Dschihadist aus Saudi-Arabien mit engen Beziehungen zu den meisten Hardliner-Islamistengruppen in Syrien, vertritt klar die Einigkeit der Rebellen innerhalb und außerhalb des Kampfes. Er sagt, die Gruppen stimmten überein, dass Idlib ein „Tor zur Einheit sein soll und es deswegen weder Dar al-Qada noch eine Islamische Kommission geben wird“. Stattdessen hätten die Parteien sich darauf geeinigt, ein neues Gericht unter einem neuen Namen zu schaffen.

Nachdem die Rebellen die Stadt erobert hatten, rief Ahrar al-Shams oberster Führer Hashim al-Sheikh zur Rückkehr zu einem multilateralen Regierungsmodell in der Stadt auf. Die kämpfenden Gruppen seien – mit Gottes Hilfe – dazu in der Lage, „wenn sie ihre Parteiinteressen aufgeben und die Interessen des Islam und das Ziel, die unterdrückten Menschen zu befreien, an oberste Stelle setzen“.

Die Al-Nusra-Front hat dazu noch nicht offiziell Stellung bezogen, und sowohl Ahrar al-Sham als auch Abdullah al-Muheisini haben in der Vergangenheit schon ähnliche Appelle formuliert – ohne Erfolg. Dennoch scheint Al-Muheisinis Aussage, die beteiligten Parteien hätten sich bereits auf eine gemeinsame Rechtsprechung geeinigt, sowie die symbolische Bedeutung der Regierungsform in Idlib darauf hinzuweisen, dass die Al-Nusra-Front und Ahrar al-Sham offenbar ernsthaft daran arbeiten, eine Brücke zueinander zu schlagen.

Aus dem Englischen von Carola Torti.

 

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erschienen in Ausgabe 5 / 2015: Töten für den rechten Glauben
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