Aufstand der Fanatiker

Der Terror, den Boko Haram in Nordnigeria verbreitet, ist nicht nur in Missständen begründet wie Armut und Korruption. Die Gruppe setzt eine Tradition islamischer Revolten fort und kämpft für einen reinen, von populären Glaubensformen freien Islam.

Boko Haram scheint auf dem Rückzug. Die islamistische Bewegung ist von Truppen aus den Nachbarstaaten Tschad, Kamerun und Niger mit Unterstützung südafrikanischer Söldner aus ihrer Hochburg im Nordosten Nigerias vertrieben worden. Zudem hat Nigeria mit dem Muslim Muhammadu Buhari seit kurzem einen neuen Präsidenten. Der ehemalige General verspricht, die nigerianischen Sicherheitskräfte aggressiver und wirksamer einzusetzen als sein Vorgänger Goodluck Jonathan, um die Terrormiliz zu zerschlagen. 

Für die mehr als 6000 Unschuldigen, die bei von Boko Haram verübten Bombenanschlägen, bei Schießereien und Enthauptungen ums Leben gekommen sind, und auch für diejenigen, die solche Angriffe schwerverletzt überlebt haben, käme das natürlich zu spät. Und selbst wenn Buhari es schafft, diese Erscheinungsform der Gewalt im Mantel des Islams zu besiegen, dürfte in Nigeria – dem an Erdöl reichen Land mit so armen Menschen – wieder eine andere Form von muslimischem Extremismus aufkommen. Das war in der Vergangenheit so und wird so bleiben, solange die gesellschaftlichen Umstände eine solche Pervertierung des Islams zulassen.

Das traurige Paradox am Terror von Boko Haram ist, dass er in einer Gesellschaft auftritt, die lange Zeit einen als friedfertig, tolerant und gastfreundlich bekannten Islam pflegte. Rund die Hälfte der 160 Millionen Nigerianer sind Muslime. Sie leben mehrheitlich in den nördlichen Bundesstaaten; die größte Ethnie dort sind die Hausa-Fulani. Die Fulani sind traditionell Nomaden, die durch ganz Westafrika ziehen. Zu Anfang des 19. Jahrhunderts riefen ihre Vorfahren unter Führung von Scheich Usman dan Fodio einen bewaffneten Dschihad aus, um den Islam, den damals die Hausa-Herrscher der Region praktizierten, von westlichen Einflüssen zu reinigen. Sie vertrieben die Könige von ihren Lehnsgütern und herrschten dann über ein Gebiet, in dem die Hausa den mit Abstand größten Teil der Bevölkerung ausmachten. Die Fulani verbreiteten den Islam auch weiter unter der vorwiegend bäuerlichen Hausa-Bevölkerung.

Boko Haram hat viele Väter

Im Laufe der Zeit heirateten die städtisch geprägten Fulani und ihre Nachkommen zunehmend in die zahlenmäßig stärkere Hausa-Gesellschaft ein und übernahmen nach und nach die Sprache und die Kultur; daher die Bezeichnung Hausa-Fulani. Als die Briten mit einer Kombination aus Verträgen und Waffengewalt am 1. Januar 1900 die Herrschaft über ein Gebiet errichteten, das sie das „Protektorat Nordnigeria“ nannten, hatten die Fulani fast ein Jahrhundert lang einen großen Teil dieses Gebiets – bekannt als „Kalifat von Sokoto“ – von ihrer Hauptstadt Sokoto im Nordwesten Nigerias aus regiert. 

Das Zentrum des Boko-Haram-Aufstands liegt jedoch in Nordostnigeria. Das umfasst einen Teil des vorkolonialen Reiches Bornu, dessen Territorium sich bis in den Tschad hinein erstreckte. Ethnisch wird das Gebiet von den Kanuri dominiert, die ebenfalls ein weit überwiegend muslimisches Volk sind. Bornu unterhielt in der Geschichte spannungsreiche Beziehungen sowohl zu den Hausa-Königen als auch zum Reich der Fulani, seinen unmittelbaren Rivalen. Außerdem war es Schauplatz heftigen Widerstands gegen den westlichen Kolonialismus. Ein anti-europäisch gesinnter Sudanese namens Rabeh rief hier Ende des 19. Jahrhunderts zum heiligen Krieg und kämpfte dann gegen die Franzosen. Er verlor sein Leben in einem Gefecht auf einem Territorium, das am Ende den Briten zufiel.

Bornu, das Land der Hausa sowie das Kalifat Sokoto wurden zudem wiederholt von mahdistischen Aufständen heimgesucht – ein weiterer wichtiger Baustein, um das Phänomen Boko Haram zu verstehen. Der Mahdismus ist die islamische Version einer apokalyptischen Theologie; danach kündigt sich das Ende der Zeit durch einen gewaltigen gesellschaftlichen Umbruch und die universelle Ausbreitung des Islam an. Der Mahdi, „der Befreier“, soll die Kämpfe anführen, die diesem Weltuntergang vorausgehen.

In der Geschichte Nordnigerias treten immer wieder selbsternannte Mahdis auf, die von manchen Muslimen verehrt, von den meisten jedoch gefürchtet werden – vor allem von den Spitzen des islamischen Establishments. Ihr Erscheinen wird von Hetzpredigten und der Verdammung des Status quo begleitet und ist oft Vorbote von Gewaltexzessen und Tod. Großbritannien hätte fast die Kontrolle über sein gerade ausgerufenes Protektorat Nordnigeria verloren, als bei einem mahdistischen Aufstand im Dorf Satiru nahe Sokoto eine ganze Infanteriekompanie beinahe vernichtet wurde. Die Furcht vor einer ausgedehnten Revolte griff um sich.

Vorkoloniale islamische Reiche wie Bornu, Kano und Sokoto bestimmen heute nicht mehr – wie vor der europäischen Kolonialherrschaft – über politische Loyalität und Gefolgschaft. Doch andere traditionelle Formen von Zusammengehörigkeit bestehen fort, etwa die islamischen Bruderschaften (nicht zu verwechseln mit den Muslimbrüdern im Nahen Osten). Sie bilden Netzwerke der Solidarität, verbunden in der gemeinsamen Verehrung von heiligen Imamen und charismatischen Marabuts, also islamischen Lehrern. In Geist und Temperament sind diese Bruderschaften vom mystischen Islam, den Sufis, geprägt: Sie verbinden afrikanische Bräuche mit dem islamischem Glauben. Das Zusammengehörigkeitsgefühl und soziale Harmonie sind ihnen wichtiger als die strenge Auslegung der Schrift und erzwungene Rituale, die der wahhabitische Islam Saudi-Arabiens in den Vordergrund stellt.

Nach Auffassung dieser afrikanischen Strömung des Sufismus müssen der Glaube und die religiöse Praxis frei gewählt sein, sonst sind sie bedeutungslos. Mitglieder der islamischen Bruderschaften in Westafrika sind zwar ausgesprochen gewissenhaft – um nicht zu sagen konservativ – in ihrem Verständnis des Islam und in der Glaubenspraxis. Aber sie sind keineswegs fanatisch. Die Bruderschaften – die beiden wichtigsten in Nigeria sind Tidschaniya und Qadariya – respektieren die weltlichen Behörden. Sie akzeptieren völlig, dass eine multikonfessionelle Nation wie Nigeria eine Regierung braucht, die andere Religionen achtet und schützt. In manchen Teilen Nigerias, etwa dem sogenannten Middle Belt, war es sogar üblich, dass Muslime und Christen untereinander heirateten und in einer Großfamilie verschiedene Religionen befolgt wurden.

Bewegung gegen Korruption und moderne Technik

Doch seit vier Jahrzehnten sind die Bruderschaften wachsendem Druck ausgesetzt. Zum Teil kommt er aus dem Ausland und aus der Theologie, zum Teil ist er hausgemacht und politisch. Und ein dritter Teil wurzelt in apokalyptischen, wenn nicht wahnhaften und psychotischen Strömungen. All das hängt mit der sich verändernden und zuweilen explosiven Natur der nigerianischen Gesellschaft und Wirtschaft zusammen.

Mitte der 1970er Jahre lockte Marwe Muhammadu, ein aus Kamerun stammender Prediger, Tausende unzufriedene Jugendliche in eine apokalyptische Bewegung. Sie verurteilte Korruption ebenso die Verwendung von modernen Technik. Da er alle, die ihn ablehnten, heftig verdammte, erhielt er den Beinamen „Maitatsine“: „Der, der verflucht“. Bevor und nachdem er ein Stadtviertel der nordnigerianischen Metropole Kano eingenommen hatte, verloren Tausende Menschen ihr Leben, bis sich 1980 die Regierung gezwungen sah, seine Anhänger gewaltsam zu verjagen. Marwe Muhammadu kam dabei ums Leben, doch seine Gefolgsleute, die Yan Tatsine, verbreiteten weiter in Teilen Nordnigerias Chaos und Tod.

Eine wesentlich einflussreichere Bewegung tritt für eine „Reinigung“ des Islam ein, richtet sich gegen Sufisten und Bruderschaften und ist in Gewalt abgeglitten: Izala, die „Gesellschaft zur Ausmerzung von Neuerungen und zur Etablierung islamischer Verhaltensweisen“. Gegründet wurde sie von dem inzwischen gestorbenen Scheich Abubakar Gumi, Oberkadi (Richter) in Nordnigeria. Er unterhielt enge persönliche und theologische Verbindungen zu Saudi-Arabien und dessen wahhabitischem religiösem Establishment. Ebenso wie die Yan Tatsine kam Izala in den 1970er Jahren auf; am stärksten war ihr Einfluss in den 1980ern und 1990ern. Izala wollte den Islam in Nigeria von allem reinigen, was es als Vermischung mit anderen Kulten und als archaische Organisation der Bruderschaften ansah.

Nigeria war damals in einem (wenn auch mangelhaften) Prozess der Demokratisierung, und Gumi versuchte, die Politik unter den Einfluss des Islam zu bringen, zunächst mit Hilfe von Wahlen. Wichtigstes Ziel war, das islamische Recht, die Scharia, in Nigeria wieder zur Hauptquelle des Rechts zu machen; ihre Geltung war seit den Tagen des Kolonialismus auf zivilrechtliche Fragen beschränkt. Gumi war selbst kein Verfechter von Gewalt, konnte aber viele seiner militanteren Anhänger nicht unter Kontrolle halten. Nach seinem Tod 1992 führte Scheich Ibrahim al-Zakzaky, ein Schiit und Gründer der Islamischen Bewegung Nigerias, eine Gruppe unnachgiebiger „Muslimbrüder“ in blutige Zusammenstöße mit nigerianischen Sicherheitskräften. Al-Zakzaky, der insgesamt fast zehn Jahre im Gefängnis verbrachte, trat ebenfalls für eine Reinigung und Ausbreitung des Islam in Nigeria ein – jedoch unter iranischem statt unter saudischem Patronat.

Nordnigerianische Politiker stellten sich ein auf die allgemeine Empörung über Korruption im Staat (einschließlich der Justiz) und setzten auf die Karte Izala: Auch sie traten dafür ein, der Scharia eine herausragende Rolle im Rechtssystem wiederzugeben. Und sie hatten Erfolg. Seit 1999 haben die zwölf nördlichen der 36 Bundesstaaten Nigerias die Scharia als das Hauptrechtssystem eingeführt. Die damit verbundenen Versprechen auf Erlösung – unter anderem von der Korruption – haben sich ein Jahrzehnt danach allerdings nicht erfüllt. Zum einen wurden kleine Diebe und Menschen, die man des Ehebruchs bezichtigt, in öffentlichkeitswirksamen Prozessen hart bestraft; aber Wirtschaftskriminelle, die Urheber der Korruption, kamen auch unter der Scharia im Allgemeinen ungeschoren davon. Zum anderen war für Izala die Einsetzung der Scharia gar kein Zweck an sich, sondern ein Mittel zur Reinigung des Islam von unorthodoxen Praktiken. Dasselbe gilt für Boko Haram. Auch diese Bewegung hat sich die Scharia auf die Fahnen geschrieben – und zwar nicht so, wie sie von staatlichen Behörden umgesetzt wird, sondern in wirklich revolutionärer Weise.

 

Intoleranz gegenüber Christen und dem Christentum erklärt einen weiteren Aspekt der religiösen Gewalt von Boko Haram. Auch die Spannungen zwischen Muslimen und Christen in Nigeria müssen aus dem Kontext verstanden werden. In der Region des Middle Belt – des mittleren Gürtels –, wo sich der mehrheitlich muslimisch geprägte Norden und das in wesentlichen Teilen christliche Zentrum überschneiden, werden Landstreitigkeiten oft mit Behauptungen und Gegenbehauptungen darüber ausgetragen, wer als erster einen Ort besiedelt hat. Manche Führer der ursprünglichen Bewohner des Middle Belt, von denen viele inzwischen Christen sind, behaupten, hier lebende Hausa und Fulani seien Eindringlinge.

Boko Haram hat nicht nur im Middle Belt Kirchen bombardiert. Und nicht nur Boko Haram hat Gewalt gegen Christen ausgeübt. Aber gezielte Angriffe auf christliche Gotteshäuser, ebenso wie auf Regierungsgebäude, Schulen und UN-Einrichtungen, sind fester Bestandteil von Boko Harams Vision einer nur völlig vom Islam bestimmten Welt.

All diese Stränge – die Verwerfungslinien zwischen Christen und Muslimen, die anscheinend unzulängliche Umsetzung der Scharia, die Benachteiligung ethno-regionaler Gruppen, apokalyptische Unterströmungen in Erwartung des Mahdi sowie Spannungen zwischen islamischen Bruderschaften, Wahhabiten und Schiiten – nähren das Phänomen Boko Haram. Die Gruppe ist vor allem motiviert von Ablehnung; sein bekannter Beiname in der wörtlichen Übersetzung „westliche Bildung ist verboten“ drückt nur einen Teil der vielen Gruppen und Umstände aus, gegen die sie mit Gewalt kämpft.
 
Als der Anführer von Boko Haram, Mohammed Yusuf, 2009 im Polizeigewahrsam getötet wurde, war die Gruppe bereits eine gefürchtete Macht. Sie hatte die überwiegend muslimischen Gebiete Nordostnigerias mit Terror überzogen und fast tausend Menschen umgebracht. Nachdem Abubakar Shekau die Führung übernommen hatte, nahm die Brutalität weiter zu – etwa mit Entführungen und Zwangsverheiratungen von Schülerinnen sowie Selbstmordattentaten von Mädchen. Jüngst hat die Gruppe dem Islamischen Staat in Syrien und dem Irak Treue geschworen und dessen Praxis der Enthauptung übernommen.

Autor

William F. S. Miles

ist Professor für politische Wissenschaften an der Northeastern University in Boston (USA) und Experte für die Geschichte der Hausa-Region.
Trotz Unterschieden in der theologischen Ausrichtung, der politischen Taktik und ihrer Persönlichkeit haben Shekau, Yusuf, Zakzaky, Gumi und Maitatsine eines gemeinsam: Sie finden einen Nährboden unter entrechteten und entfremdeten Bevölkerungsteilen Nordnigerias und haben dort mit ihrem Charisma junge Muslime angezogen, die für eine Gewalt rechtfertigende Interpretation von Religion empfänglich sind. Diese Charismatiker stellen sich bewusst oder unbewusst in eine historische Strömung, die den Islam im heutigen Nigeria mit Usman dan Fodios dschihadistischem Eroberungsfeldzug verbindet. Boko Haram ist in Nigeria nur die jüngste Erscheinungsform von Gewaltausbrüchen gegen das Establishment im Namen des Islam.

Religion wirkt nicht in einem sozialen und politischen Vakuum. Armut, soziale Ungerechtigkeit und Korruption sind keineswegs nur in Nigeria verbreitet: Die Nachbarländer leiden genauso darunter. Doch das Ausmaß von nahezu allem – Größe und Vielfalt der Bevölkerung, Wohlstandsgefälle, Unterschiede zwischen den Landesteilen – ist in Nigeria weit größer als im Niger, in Kamerun oder im Tschad. Die Angriffe von Boko Haram sind zwar zuletzt über ihre Grenzen geschwappt, doch es ist unwahrscheinlich, dass islamistische Gruppen dort ähnlich Fuß fassen können wie Boko Haram in Nordostnigeria.  
In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob Präsident Muhammadu Buhari seine fanatischen Glaubensbrüder unter Kontrolle bringen kann. Ein solcher Erfolg wäre angesichts der Religionsgeschichte Nigerias aber nicht unbedingt als Sieg zu bewerten, sondern als Atempause vor der nächsten gewalttätigen Endzeitbewegung im Gewand des nigerianischen Islam.

Aus dem Englischen von Juliane Gräbener-Müller.

 

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erschienen in Ausgabe 5 / 2015: Töten für den rechten Glauben
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