Vergesst Rio!

Entwicklungsexperten aus aller Welt haben eine Abkehr vom westlichen Lebensstil gefordert“, hieß es neulich in einer Meldung einer Nachrichtenagentur. Derlei wohlfeile Appelle werden wir in den kommenden Wochen noch häufiger zu hören bekommen; es naht die nächste internationale Konferenz, auf der es um die Rettung unseres Planeten gehen soll: Rio+20, das Nachfolgetreffen der UN-Konferenz über nachhaltige Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro.

Autor

Tillmann Elliesen

ist Redakteur bei "welt-sichten".

Die Forderung ist deshalb hohl, weil sich niemand angesprochen fühlen muss. Das Schöne am westlichen Lebensstil ist ja, dass es ihn nur in der Mehrzahl gibt. Die Spannbreite reicht vom New Yorker Investmentbanker, der mit seiner Freundin übers Wochenende zum Shoppen nach Kapstadt fliegt, über die Familie mit drei Kindern in der französischen Provinz, die sich mit dem Fahrrad fortbewegt und Saisongemüse kauft, bis zur 25-jährigen Occupy-Aktivistin in Frankfurt, die sich so weit es geht von den Lebensmittelabfällen der Luxusrestaurants ernährt und auf eine längere Asienreise spart. Der Kirchentag nächstes Jahr in Hamburg steht unter einer Losung, die die mögliche Vielfalt gut zum Ausdruck bringt: „Soviel Du brauchst.“ Wie viel das ist, darüber lässt sich trefflich streiten. Es wäre zum Beispiel interessant zu erfahren, wie viele der Entwicklungsexperten, die von Konferenz zu Konferenz eilen und einen „anderen Konsum“ predigen, fest davon überzeugt sind, dass sie jedenfalls nicht auf das neueste Smartphone- oder Laptop-Modell verzichten können.

Wer also soll sich von welcher Art Leben verabschieden? Und warum? Und wie? Auf so konkrete Fragen gibt es in der Umwelt-, Klimaschutz- und Nachhaltigkeitsdebatte kaum Antworten. Dafür umso mehr moralingetränkte Urteile über falsche und richtige Entwicklungsmodelle oder abgehobene Diskurse darüber, ob eine „grüne Wirtschaft“ aus der Krise oder aber nur in eine neue Sackgasse führt, weil sie am Wachstumsprinzip nichts ändert.

Vertreter der zweiten Ansicht denken laut darüber nach, Rio+20 zu boykottieren, weil von der Konferenz kein Signal für einen echten Kurswechsel zu erwarten sei. Tatsächlich ist der Entwurf für das Abschlussdokument an Beliebigkeit kaum zu übertreffen. Das Papier ist ein Bauchladen für eine bessere Welt, der jedem etwas zu bieten hat: saubere Flüsse und intakte Wälder, starke Frauen und glückliche Indigene, verantwortliche Regierungen und Unternehmen – und natürlich ein gesundes Klima und mehr Entwicklungshilfe. Konkret wird es nur bei der einen oder anderen organisatorischen Frage, etwa dem Vorschlag, einen UN-Rat für nachhaltige Entwicklung einzurichten oder das UN-Umweltprogramm institutionell aufzuwerten.

Kritiker aus Umwelt- und Entwicklungsorganisationen monieren zu Recht die Unverbindlichkeit des Papiers. Weniger nachvollziehbar hingegen ist der Einwand, Rio+20 greife zu kurz: Die Konferenz werde nur an Symptomen herumdoktern, nicht aber die „multiplen Krisen“ (Finanz, Klima, Armut, Umwelt, Gerechtigkeit etc.) im Zusammenhang behandeln und Lösungsansätze aufzeigen. Das klingt, als könne es einen Masterplan zur geforderten „globalen Transformation“ geben, auf den man sich in Rio bloß zu verständigen bräuchte – und das in einer Welt, in der noch nicht einmal Konsens über einen neuen Bahnhof in Stuttgart hergestellt werden kann.

Der Kulturwissenschaftler Harald Welzer hat in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ beklagt, die einzige Geschichte, die die Nachhaltigkeitsbewegung zu erzählen habe, sei, dass es fünf vor zwölf sei und alles getan werden müsse, dass es nicht zwölf werde. Allerdings, sagt Welzer, sei es schon ziemlich lange fünf vor zwölf. Es werde auch nie fünf nach zwölf, und niemand beantworte die Frage, was eigentlich passiere, wenn es zwölf sei. Was heißt denn etwa, „gerade noch tolerabel“ sei eine Klimaerwärmung von zwei Grad? Dass bei Werten darüber die Erde untergeht wie in einem Hollywoodfilm? Und wir das achselzuckend hinnehmen müssen, weil wir das Ziel voraussichtlich verfehlen?

Mit anderen Worten: Es wird höchste Zeit, die Nachhaltigkeitsdebatte zu erden und von ihrem apokalyptischen Unterton zu befreien. Welzer versucht das mit seiner neuen Stiftung „Futurzwei“: Deren Website hinterfragt auf pfiffige Weise und ohne erhobenen Zeigefinger westliche und andere Lebensstile und stellt Leute und Initiativen vor, die zeigen, wie man heute und in Zukunft zu einer besseren Welt beitragen kann.

Vergesst Rio? Ja, aber nicht, weil dort der falsche Plan zur Rettung des Planeten zur Diskussion steht. Sondern weil dort überhaupt ein solcher Plan verabschiedet werden soll.

 

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erschienen in Ausgabe 3 / 2012: Hunger: Es reicht!
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