"Zum Schweigen verdonnert"

Zum Thema
Kinderarbeit in Bolivien
Legale Kinderarbeit
Bolivien hat die Arbeit von Kindern teilweise erlaubt. Die junge Aktivistin Lourdes Cruz Sánchez wollte in Genf erklären, was das bringt – doch dort hörte ihr keiner zu. Ein Gespräch über begriffsstutzige Bürokraten und eurozentrische Weltbilder.

Seit dem vergangenen Jahr gilt in Bolivien ein neues Gesetz, das Kinderarbeit ab dem zehnten Lebensjahr unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat das heftig kritisiert. Lourdes Cruz Sánchez von der bolivianischen Organisation arbeitender Kinder war Ende Mai in Genf bei der 104. Internationalen Arbeitskonferenz dabei. Zusammen mit den anderen Delegierten der Lateinamerikanischen Bewegung arbeitender Kinder (MOLACNATS) hat sie versucht, das Gesetz zu erklären.

Wie war die Reise nach Europa?
Die meisten geplanten Aktionen sind erfolgreich verlaufen. Aber auf der Internationalen Arbeitskonferenz der ILO konnte ich nicht das Wort ergreifen.

Und die Rede des bolivianischen Arbeitsministers?
Zunächst hat er die bolivianische Gesetzgebung verteidigt. Doch dann gab es einige sehr kritische Einwände. Bolivien verletze internationale Konventionen, sei verantwortungslos. Darauf gab der Arbeitsminister – vielleicht weil er neu im Amt ist – allem eine andere Perspektive und betonte, dass die Kinderarbeit in Zukunft abgeschafft werden solle.

Das ist die offizielle Regierungsposition und die Tendenz des neuen Kinderarbeitsgesetzes.
Aber es hat mich gestört. Ich fühlte mich wie ein Fisch, der zwar im Wasser ist, aber den man trotzdem nicht schwimmen lässt. All diese Dinge über dein Land zu hören, aus dem Zusammenhang gerissen und vielfach unwahr, wie die immer wiederkehrende Behauptung, dass arbeitende Kinder in Bolivien nicht die Schule besuchen können ... und du darfst selbst dazu nichts sagen. Ich musste mir anhören, dass das neue Gesetz ein Rückschritt ist. Wo sie selbst rückschrittlich sind, wenn sie die arbeitenden Kinder verstecken, statt sie in das Blickfeld zu holen, um sie zu schützen.

Welche Rolle hat der Dachverband bolivianischer Gewerkschaften gespielt?
Vorher hatten uns die Delegierten erklärt, sie seien mit dem neuen Gesetz nicht einverstanden und dass sie sich damit auch nicht näher beschäftigt hätten. Wir meinten, dass sie dann besser nichts dazu sagen sollten. Aber sie forderten in ihrer Rede sogar eine internationale ILO-Kommission, um das Gesetz in Ordnung zu bringen.

Was ist härter: als Kind auf dem Friedhof in Potosí zu arbeiten oder die Interessen der arbeitenden Kinder bei der ILO zu vertreten?
Eindeutig die Vertretung der Interessen der arbeitenden Kinder. Ich habe verstanden, dass sie einfach nicht wollen, dass Kinder produktiv tätig sind. Wir dagegen verstehen „Gutes Leben“ als ein harmonisches Leben in der Familie, in dem man sich gegenseitig unterstützt und die Dinge teilt. Aber für die Kritiker stehen die materiellen Dinge im Mittelpunkt. Dass man wirtschaftlich abgesichert ist. Und da sie alles haben, was zum Leben benötigt wird, ist die Arbeit von Kindern nicht nötig. Hier bei uns ist die Wirklichkeit ganz anders.

Konntet Ihr das nicht erklären?
Wir waren zum Schweigen verdonnert. Deshalb haben wir von MOLACNATS den Text „Hört die arbeitenden Kinder an“ auf kleine Plakate geschrieben. Aber das Sicherheitspersonal bekam das mit, und dann durften die anderen Delegierten aus Venezuela und Paraguay nicht einmal mehr in die Versammlung. Auch unsere Regierung warnte mich, man könnte uns aus der Konferenz herauswerfen.

Und hinter den Kulissen?
Da haben wir mit einer ganzen Reihe von Journalisten, Konferenzteilnehmern und Regierungsvertretern reden können.  Manche sehen die bolivianische Erfahrung positiv, weil der Schutz arbeitender Kinder im Mittelpunkt steht und das Kindheitsverständnis ein anderes ist. Die meisten sind aber immer noch davon überzeugt, dass Bolivien ein schlechtes Vorbild ist, weil es Kinderarbeit legalisiert. Bis zur Erschöpfung haben wir zu erklären versucht, dass es im Gesetz nicht um Legalisierung, sondern um den Schutz der Rechte der arbeitenden Kinder geht. Bei einer Diskussion während unserer Europareise gab es einen Vertreter der ILO, der strikt deren Position vertreten hat: dass Kinderarbeit abgeschafft gehört, dass ein arbeitendes Kind nicht die Schule besucht und dass all die arbeitenden Kinder ausgebeutet werden. Klar, dass ich ihm meine Position entgegengesetzt habe. Ich habe auf die ILO-Studien über Schule und Arbeit in Bolivien hingewiesen, die nie veröffentlicht wurden.

Was steht in diesen Studien?
Selbstverständlich gibt es arbeitende Kinder, die nicht zur Schule gehen. Aber was ist in diesen Fällen zu tun? Man muss ihnen den Zugang zum Unterricht ermöglichen, nicht ihnen einfach die Arbeit verbieten. Laut diesen Studien schneiden die Kinder, die erwerbstätig sind und gleichzeitig die Schule besuchen, in der Schule vergleichsweise gut ab. Warum? Weil sie verantwortungsbewusst sind und das Lernen ernst nehmen. Ich habe davon berichtet, dass manche sehr gute Abschlüsse machen und zu den besten Schülern ihrer Klassen gehören. Im Verlauf der Debatte kam es sogar dazu, dass ich auf den Tisch geschlagen habe. Einfach, weil Dinge gesagt wurden, die ungerecht sind. Dass man uns Geld gegeben und entsprechend vorbereitet habe, damit wir so reden.

Ihr wart bei eurem Europabesuch nicht nur auf Konferenzen und Tagungen, sondern habt auch Jugendliche getroffen. Wie lief das?
In Brüssel waren wir in  Schulen. Wir wollten die Kinder und Jugendlichen davon überzeugen, wie wichtig es ist, dass sie selbst Verantwortung in ihrem Leben übernehmen. Dass sie es nicht den Erwachsenen allein überlassen, für sie zu entscheiden. Die Kinder erzählten dann abends ihren Eltern davon. Und am nächsten Tag bekamen wir das Echo zu hören: „Wie kann es sein, dass arbeitende Kinder unseren Kindern solche Dinge erzählen?“ Aber es gab auch viel Verständnis. Ein Vater war zufällig Mitarbeiter der Entwicklungsabteilung in der EU-Kommission. Der lud uns zu einem Gespräch ein. Er hörte uns richtig zu und ich glaube, er hat uns verstanden. Er erklärte uns, dass die ILO immer von einem europäischen Kindheitsverständnis ausgehe. Aber keine Kultur soll einer anderen aufgezwungen werden. Bei meiner Europareise habe ich mehr als zu Hause begriffen, wie anders die Arbeit – auch von Kindern – in unseren Kulturen verstanden wird. Nicht vor allem als Einkommensquelle, sondern viel mehr als Beitrag zur Gemeinschaft und als Lernfeld.

Wie wird es nun weitergehen?
Es ist etwas ganz anderes, deine Rechte in deinem eigenen Land zu vertreten oder auf internationaler Ebene. Vor allem dann, wenn viele Staaten gegen dich sind. Und fernab von deiner Heimat fehlen die Menschen, die dich sonst unterstützen. Es gibt keine Regeln, die dich schützen. Deshalb habe ich gesagt: Hier in Genf können sie mich zum Schweigen bringen, aber in meinem eigenen Land werde ich reden. Unsere dringendste Aufgabe ist, dass das Kinder- und Jugendgesetz in der Praxis angewandt wird. Deshalb ist unser Kampf mit der Verabschiedung noch nicht zu Ende, er ist sogar noch anspruchsvoller geworden, weil er inzwischen eine internationale Dimension hat. Wir werden jedenfalls nicht zulassen, dass die ILO nach Bolivien kommt und uns ein europäisches Kindheitsideal aufzwingt.

Das Gespräch führte Peter Strack.

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Der erfrischend lebhafte Bericht der Aktivistin Cruz Sanches macht auf ein Grundübel in der politischen Arbeit aufmerksam. Es ist das Bestreben, jeden kleinen guten Ansatz von ganz oben bestätigt zu bekommen, am besten gleich in der Vollversammlung der UN. Das führt zu nichts, denn mit welcher Kompetenz sollen Gremien fern der gelebten Wirklichkeit über eine Schule in Bolivien entscheiden? Wie lang würde es dauern, bis sich alle Gefragten über eine Definition von "Kinderarbeit" einig sind? Diese finden die Gefragten an der Basis, in den Schulen ganz schnell, wenn es um Art und Umfang von Kinderarbeit geht. Ist Mithilfe im Haushalt schon Kinderarbeit oder wird sie es erst durch ein Honorar? Mir ist vergönnt, sachkundig über das Thema zu berichten. In der Montessori-Schule, in der ich unterrichte, wird es wohl ab dem nächsten Schuljahr einen Unterichtszweig unter der Überschrift "Schüler lernen Marktwirtschaft" geben. Schon während des Schuljahres werden die Schüler die greifbaren Produkte ihres Fleißes unter dem Label "Reine Kinderarbeit" vorstellen. Nirgends ist der Übergang von Verantwortung zur Selbstverantwortung so schnell sichtbar, als wenn Kinder eine verwertbare Leistung vollbringen. Wer solches verhindern will, ist möglicherweise auf die Erziehung von Konsumidioten aus, die nie gelernt haben, wie Werte entstehen und wem sie nützen.

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erschienen in Ausgabe 8 / 2015: Demokratie: Die bessere Wahl
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