Gemeinsam gegen die Revolution

Militärregime
Die arabischen Diktatoren stellen sich als Bollwerk gegen den islamistischen Terror dar. Doch in Wahrheit fördern sie ihn. Denn ihr Hauptziel ist, die demokratischen Bewegungen auszuschalten.

Der tunesische Diktator Ben Ali wurde im Januar 2011 in einem Volksaufstand gestürzt. Im Monat darauf ereilte den ägyptischen Präsidenten Hosni Mubarak nach beinahe 30 Jahren an der Macht das gleiche Schicksal. Ein altgedienter amerikanischer Geheimdienstmitarbeiter vertraute mir damals seine Befürchtung an: Eine Niederlage der demokratischen Bewegung in der arabischen Welt werde den Dschihadisten solchen Auftrieb geben, dass man das Budget für die Terrorismusabwehr nicht nur verdoppeln, sondern gleich verdreifachen sollte, um der Bedrohung begegnen zu können.

Genau das ist heute das Problem der arabischen Welt – abgesehen einzig von Tunesien, wo die Demokratisierung erfolgreich verlaufen ist. Und die arabischen Diktaturen sind mitverantwortlich für das Aufkommen und Erstarken ihrer dschihadistischen Erzrivalen – also der Heiligen Krieger von Gruppen wie al-Qaida und dem Islamischen Staat. Eine perverse und destruktive Logik hat die Militärregime veranlasst, auf das Schreckgespenst der extremistischen, gewalttätigen Islamisten zu setzen, um die Proteste der von ihnen unterjochten Völker zu ersticken. Das erklärt den Widerspruch, dass die Antiterror-Apparate immer weiter aufgebläht wurden, während zugleich die terroristische Bedrohung, die diese Apparate bekämpfen sollten, ständig wuchs. Tatsächlich machen diese beiden in einen blutigen Kampf verstrickten Kräfte bereitwillig gemeinsame Sache, wenn es darum geht, den gemeinsamen Feind zu unterdrücken: die demokratische Protestbewegung.

Die derzeitige Krise muss im Rahmen von drei langfristigen historischen Prozessen gesehen werden. Da ist zunächst die mehr als zwei Jahrhunderte dauernde Nahda, die „Renaissance“ und das Erwachen der Völker Arabiens, die 1798 mit Napoleons Ägyptenfeldzug begann. Ein Teil davon ist zweitens das halbe Jahrhundert von 1922 bis 1971, in dem die arabischen Länder nach und nach ihre Unabhängigkeit und formelle Souveränität als Nationalstaaten erhielten – zuerst Ägypten 1922, zuletzt die Vereinigten Arabischen Emirate 1971. Ein weiterer Teil dieses Prozesses waren schließlich die zwei Jahrzehnte von 1949 bis 1969, in denen Militärcliquen die nationalistischen Eliten ausschalteten und den Unabhängigkeitsbestrebungen eine neue Richtung gaben.

Vor diesem Hintergrund zeigt sich: Die Krise, die derzeit die arabische Welt erschüttert, ist von revolutionärer Art. Sie ist darin begründet, dass Regime, die gewaltsam die Früchte des Kampfs gegen die Kolonialherren an sich gerissen haben, reformunwillig sind. Ich sehe darin die tragische Verlängerung dieses Kampfes der Völker um Selbstbestimmung. Diktatoren und Dschihadisten sind wild entschlossen, der Volkssouveränität als Grundlage politischer Legitimation keine Chance zu geben. Diese Weigerung scheint mir viel aufschlussreicher für das Verständnis der derzeitigen Wirren als die Gegenüberstellung von Laizisten und Fundamentalisten oder gar von Sunniten und Schiiten.

Moderne Mamelucken

Um herauszuarbeiten, wo Diktatoren und Dschihadisten gemeinsame Sache machen, schlage ich zwei etwas behelfsmäßige Begriffe vor: Moderne Mamelucken nenne ich die heute herrschenden Militärdiktaturen. Und als Sicherheitsmafia bezeichne ich die Antiterror-Apparate, die sich in einen weltweiten Kampf gegen den schwer fassbaren und damit im Grunde unbesiegbaren „Terror“ eingliedern.

Die Mamelucken, die Ägypten und Syrien zwischen 1260 und 1516 regierten, waren ursprünglich eine dem Herrscher ergebene Kriegertruppe aus Sklaven. Wie sie stellen auch die modernen Mamelucken eine Kaste dar. Sie leben abgesondert vom Rest der Bevölkerung, deren Reichtümer sie sich unter den Nagel gerissen haben – angeblich für die Verteidigung nationaler Interessen, in Wahrheit aber für die ihrer herrschenden Clique. Wie früher herrscht eine ständige Spannung: Der oberste Mameluck ist versucht, eine Dynastie zu gründen, und seinen Waffengefährten wollen dies verhindern. Der Sturz Mubaraks durch den Obersten Rat der Streitkräfte im Februar 2011 erklärt sich durch diese Ablehnung einer Erbherrschaft oder jamlaka, für die das Syrien der Assads heute das letzte Beispiel darstellt.

Zur Kategorie der modernen Mamelucken zähle ich die Militärregime von Algerien, Ägypten, Syrien und Jemen. In den drei erstgenannten Ländern hat eine Serie von Staatsstreichen und blutigen Intrigen in einem Ausleseprozess ähnlich der darwinistischen Evolution die schlimmsten der Despoten an die Macht gebracht. Im Jemen hat die Einigung des Landes unter der ungeteilten Macht von Ali Abdallah Saleh im Jahr 1990 eine lokale Variante des modernen Mamelucken begründet.

Die modernen Mamelucken geben vor, das Volk, das laut den Verfassungen der Souverän ist, regelmäßig wählen zu lassen, aber die Beteiligung ist meist fragwürdig und die Ergebnisse sind völlig unglaubhaft. Die Parallele zwischen der Präsidentschaftswahl, die Abd al-Fattah as-Sisi im Mai 2014 in Ägypten mit offiziell 97 Prozent der Stimmen gewonnen haben will, und den 89 Prozent Zustimmung zu Baschar al-Assad im darauffolgenden Monat ist hier sehr aufschlussreich.

Was die Sicherheitsmafia angeht: Sie führt einen Krieg gegen das eigene Volk, den gegen ausländische Gegner zu führen sie nicht in der Lage ist, und lebt geradezu von der terroristischen Bedrohung, die sie zu bekämpfen vorgibt. Der von George W. Bush ausgerufene „globale Krieg gegen den Terror“ hat das Phänomen noch verstärkt. Für die modernen Mamelucken hat sich dieser Krieg als wahrer Glücksfall erwiesen: Den algerischen Militärs verschaffte er die Rehabilitation auf der internationalen Bühne, Mubarak konnte Ägypten zum Teilhaber am Netz der geheimen Folterzentren für „Terroristen“ machen. Und Assad Junior unterstützte in einem bravourösen Doppelspiel die Dschihadisten im Irak und kooperierte zugleich in Sicherheitsfragen mit den USA gegen dieselben Extremisten. Abu Musab al-Suri, ein geistiger Wegbereiter und Propagandist von al-Qaida, wurde 2005 von der CIA in Pakistan gefasst und dann insgeheim an Damaskus ausgeliefert, weil man ihn nicht nach Guantánamo bringen wollte.

Auf die Spitze getrieben hat das skrupellose Doppelspiel der Sicherheitsmafia Ali Abdullah Saleh im Jemen. Nach den Attentaten vom 11. September 2001 bekannte sich auch sein Regime zum „globalen Krieg gegen den Terror“. In der Folge konnte al-Quaida auf der arabischen Halbinsel erstarken, während zugleich eine von einem Sohn und einem Neffen des Staatschefs geführte Elitetruppe gebildet und von den USA mit Waffen, Ausbildung und Geld versorgt wurde. Diese angeblichen Antiterror-Einheiten waren in erster Linie eine Art Garde zum Schutz des Despoten.

Der Horror, in dem heute die arabische Welt versinkt, hatte seinen Vorläufer in den 1990er Jahren, dem schwarzen Jahrzehnt, in Algerien. Die „Entscheider“, wie man dort den undurchsichtigen Zirkel der militärischen Machthaber nennt, setzten im Januar 1992 Präsident Chadli Bendjedid ab. Sie warfen ihm vor, dass er bereit war, mit einer islamistischen Parlamentsmehrheit und einer von dieser gebildeten Regierung zusammenzuarbeiten.

Dieser Staatsstreich brach den Wahlprozess ab, nachdem die Islamische Heilsfront (FIS) aus dem ersten Wahlgang als klare Siegerin hervorgegangen war. Er war der Auftakt eines Bürgerkriegs von unerhörter Grausamkeit, in dem die gesetzestreue FIS bald die Rolle als Führer des islamistischen Lagers an die dschihadistischen Kommandos der Groupe Islamique Armé (GIA) verlor. Laut offiziellen Zahlen verloren 150.000 Menschen ihr Leben, Tausende verschwanden spurlos. Dennoch gelang es den algerischen „Entscheidern“ nie, die dschihadistische Bedrohung auszurotten. Sie machten aber jede Chance auf eine einigermaßen harmonische Integration des Islamismus in das politische Kräftespiel zunichte.

Genau dieselbe Linie verfolgte General Abd al-Fattah as-Sisi nach seinem Staatsstreich im Juli 2013 gegen Mohammed Mursi, den ersten demokratisch gewählten Präsidenten in der Geschichte Ägyptens. Mehr als tausend Anhänger der Muslimbruderschaft wurden getötet, als im Monat darauf Kundgebungen für den gestürzten Präsidenten unterdrückt wurden. Doch dieses Blutbad, wie es Kairo seit dem Ägypten-Feldzug Napoleons nicht mehr in einem solchen Ausmaß erlebt hatte, verbesserte nicht etwa die Sicherheitslage, sondern ließ im Gegenteil den islamistischen Terror eskalieren.

Wie die ägyptischen Mamelucken im Jahr 2013 haben die algerischen 1992 im Namen des Kampfs gegen den Terrorismus direkt Öl in dessen Feuer gegossen: durch die brutale Unterdrückung der islamistischen Partei mit der größten Anhängerschaft. Der darauf folgende „Restterrorismus“, an den sich Algerien schließlich gewöhnt hat, wirkte weit über die Landesgrenzen hinaus. Er trug zur Instabilität im benachbarten Tunesien bei (vor allem im Dschebel Chambi) und brachte dann den dschihadistischen Schrecken in den Norden Malis.

Ohnmacht der ägyptischen Armee

Vergleichbar damit ist jetzt: Die eine halbe Million Soldaten starke ägyptische Armee kann nicht mit tausend Dschihadisten im Norden der Halbinsel Sinai fertig werden. Das hat dazu geführt, dass deren Hauptorganisation Ansar Bait al-Maqdis (ABM) sich zur Provinz Sinai des Islamischen Staats erklärt und dem von Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufenen „Kalifat“ angeschlossen hat. Die Verbindungen, die ABM zu dschihadistischen Zellen im Gazastreifen entwickelt hat, könnten angesichts der Ohnmacht der ägyptischen Armee Israel zum Eingreifen veranlassen. Die Folgen einer solchen Flucht nach vorn wären kaum einzuschätzen. Doch bereits jetzt verlässt sich das ägyptische Militär bei Einsätzen gegen die Dschihadisten auf der Halbinsel Sinai weitgehend auf israelische Aufklärung.

Man sieht: Der Kampf der Militärregime gegen den Terrorismus verstärkt die dschihadistische Bedrohung und destabilisiert die ganze Region. Besonders ausgeprägt zeigt sich das in Syrien und im Jemen. Präsident Saleh, der im Februar 2012 die Macht im Jemen an Vizepräsident Hadi abgeben musste, trieb in den darauf folgenden Monaten ein undurchsichtiges Spiel mit seinen Beziehungen zu al-Qaida auf der Arabischen Halbinsel, um den Demokratisierungsprozess zu torpedieren. Dazu gehörten Angriffe auf Soldaten im Süden und Attentate mitten im Sicherheitsapparat der Hauptstadt.

Autor

Jean-Pierre Filiu

ist Professor für Zeitgeschichte des Nahen Ostens an der Paris School of International Affairs der Universität Sciences Po. Zusammen mit dem Zeichner David B. hat er die Graphic Novel „Die Besten Feinde. Eine Geschichte der Beziehungen der Vereinigten Staaten mit dem Nahen Osten“ (avant-verlag) verfasst.
Syriens Präsident Assad erklärte seit März 2011 sein Land immer wieder zum Opfer einer Terrorkampagne, obwohl die Proteste gegen ihn zunächst absolut gewaltfrei verliefen. Er ließ inhaftierte Dschihadisten frei und füllte dafür die Gefängnisse mit friedlichen Oppositionellen. Auf der anderen Seite nahm die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) erst im Mai 2015 mit Palmyra die erste vom Assad-Regime gehaltene Stadt ein; bis dahin hatte sie sämtliche Territorien, die sie in Syrien eroberte, der Koalition der Revolutionäre abgenommen. Der syrische Despot wiederum hat im Januar 2014 einen verheerenden Angriff mit so genannten Fassbomben, das sind mit Sprengstoff und Metallschrot gefüllte Behälter, auf Wohnquartiere der Aufständischen in Aleppo befohlen – aber erst, nachdem diese die islamistischen Terroristen aus dieser Zone vertrieben hatten. Generell richteten die Dschihadisten im Jahr 2014 weniger als zehn Prozent ihrer Angriffe gegen das Assad-Regime und umgekehrt. Assad und Baghdadi verstehen sich prächtig, wenn es gilt, ihren gemeinsamen Feind zu bekämpfen: die syrische Revolution.

Tunesien scheint trotz allen verständlichen Problemen mit dem Erbe der Diktatur besser gerüstet, um der dschihadistischen Bedrohung entgegenzutreten – nicht militärisch, sondern mit seiner demokratischen Legitimation. Das Attentat im März, dem im tunesischen Museum Bardo 22 Menschen zum Opfer fielen, bewirkte eine spektakuläre Mobilisierung der Bevölkerung, und das ist das sicherste Bollwerk gegen einen dschihadistischen Umsturz. Drei Monate später versetzte das Blutbad in einem Badeort nahe Sousse mit 39 Toten, zum größten Teil Briten, dem Tourismus und damit der tunesischen Wirtschaft einen schweren Schlag. Doch es brachte den Demokratisierungsprozess nicht zum Stillstand. Man stelle sich vor, wie destabilisierend sich solche Attentate in Ägypten auswirken würden.

Man sollte aufhören, Terrorismus und Terrorismusbekämpfung als einander entgegengesetzt zu sehen. Das verdeckt nur, in welch furchtbares Dilemma die modernen Mamelucken ihre Gesellschaften gestürzt haben. Eingedenk des „schwarzen Jahrzehnts“ in Algerien ist dies auch gar nichts Neues. Die Brutalität von Regimen, die bedenkenlos ihre Bevölkerung opfern, um das Überleben der herrschenden Kaste zu sichern, findet ihre Entsprechung in der Barbarei des Islamischen Staates. Sein Schrecken wird nicht für immer auf die arabische Welt beschränkt bleiben.

Aus dem Französischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2015: Entwicklung - wohin?
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