Das Charisma verblasst

Linkspopulisten in Lateinamerika
In Lateinamerika hat eine Generation von Politikern mit linkspopulistischen Rezepten Sozialreformen vorangebracht. Warum haben sie nach einem Jahrzehnt an der Macht jetzt zu kämpfen?

Diesseits und jenseits des Atlantiks haben politische Begriffe bisweilen unterschiedliche Bedeutung. Wer in Europa von Populismus spricht, denkt zunächst an rechtslastige Parteien wie die „Alternative für Deutschland“, die „Freiheitliche Partei Österreichs“ oder den „Front National“ in Frankreich. Zu Lateinamerika fallen einem beim Stichwort Populismus nur linke Präsidenten ein wie Hugo Chávez in Venezuela, Luiz Inácio Lula da Silva in Brasilien, Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien oder Evo Morales in Bolivien.

Egal ob Chávez oder die AfD, Populismus hat dabei in Europa einen negativen Beigeschmack. Der Begriff hat mit Scharlatanerie und Mangel an Demokratieverständnis zu tun. In der politischen Theorie Lateinamerikas dagegen wird er auch positiv verwendet. Wichtigster Denker zu diesem Thema war der 2014 verstorbene argentinische Philosoph und Politologe Ernesto Laclau, der seit Ende der 1970er Jahre einen linken Populismus als Weg zu einer pluralen und radikalen Demokratie entwarf. Charismatische Persönlichkeiten spielen dabei für ihn eine zentrale Rolle. Ihnen könne es gelingen, die vielen Partikularinteressen heutiger Gesellschaften unter linkem Vorzeichen zu hegemonialen Blöcken zu bündeln. Während der zwölfjährigen Präsidentschaft von Néstor Kirchner, seiner Frau und Nachfolgerin Cristina Fernández (2003 bis 2015) war Laclau so etwas wie der Hausphilosoph der argentinischen Regierung.

Auch wenn er in London lehrte und seine Theorie als Weiterentwicklung der Gedanken des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci (1891 bis 1937) verstand – Laclau war ein sehr lateinamerikanischer Theoretiker. In seinem Denken schwingen politische, soziale und kulturelle Verhältnisse mit, wie sie in Lateinamerika seit der Zeit der Unabhängigkeitskriege entstanden sind. Und diese Verhältnisse sind ganz anders als in Mitteleuropa.

Zwar gleichen die Verfassungen der meisten lateinamerikanischen Republiken ihren Vorbildern in Westeuropa oder Nordamerika. Zwischen der Idee dieser Staaten und ihrer Wirklichkeit aber klafft ein tiefer Graben. Mehr noch: „Die Ideen verschleiern die Wirklichkeit, anstatt sie offen zu legen und zum Ausdruck zu bringen“, schrieb der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz vor bald siebzig Jahren in seinem Essay „Das Labyrinth der Einsamkeit“. Das gilt noch immer und hängt mit der Geschichte zusammen.

Die Unabhängigkeit wurde von den Nachkommen der Kolonialherren erkämpft

Die Unabhängigkeit der lateinamerikanischen Republiken wurde – mit der Ausnahme Haitis – nicht von den Ureinwohnern oder importierten schwarzen Sklaven erkämpft, sondern von den „Kreolen“ genannten weißen Nachkommen der Kolonialherren selbst. Sie wollten sich im 19. Jahrhundert nicht mehr von Madrid gängeln lassen, sondern selbst über ihren Handel und den daraus resultierenden Reichtum bestimmen. „Es ist verständlich, dass sich die Kreolen im Kampf um die Unabhängigkeit von der versteinerten Bürokratie Spaniens zu befreien versuchten, wobei sie nicht einmal vorhatten, die soziale Struktur der Kolonie zu ändern“, schrieb Paz. „Die Gruppen, die die Unabhängigkeitsbewegung angeführt hatten, stellten keine neuen sozialen Kräfte dar, sondern nur die Verlängerung des Feudalsystems.“ Allerdings unter der Maske eines republikanischen Diskurses.

Simón Bolívar, der heute auch von der Linken Lateinamerikas verehrte Freiheitsheld, hat immer die Präsidentschaft eines weißen Kreolen auf Lebenszeit verfochten – eines Diktators, den ausschließlich die herrschende Klasse einmal wählt und der dann bis zu seinem Tod regiert. Bolívar war selbst Großgrundbesitzer, seine Familie besaß über tausend Sklaven. Die von ihm und anderen Unabhängigkeitskämpfern gegründeten Staaten waren Republiken nur zum Schein: Es gab Parteien und Wahlen, wählen aber durfte lange nur eine verschwindende Minderheit. Das Wahlrecht war an Bedingungen gebunden: Man musste nicht nur erwachsen sein, sondern auch über ein festgesetztes Mindestvermögen verfügen und die spanische Sprache lesen und schreiben können.

Die Ureinwohner Lateinamerikas waren damit von vorherein ausgeschlossen. In Bolivien etwa, wo Indígenas rund die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, durften bis in die 1950er Jahre hinein keine fünf Prozent der Bevölkerung im entsprechenden Alter wählen – die fünf reichsten und weißesten Prozent, versteht sich. Der Staat gehörte einer kleinen elitären Minderheit, und die bestätigte sich immer nur selbst in allen wichtigen Ämtern.

Privilegien mit Hilfe der Armee verteidigt

Einzig die Guerillabewegungen, angefangen mit der Fidel Castros, haben die uneingeschränkte Macht dieser kleinen Oligarchie in Frage gestellt. Erfolgreich waren sie nur in Kuba und Nicaragua. In El Salvador, Guatemala und – was die FARC betrifft – jüngst in Kolumbien endete die Rebellion mit einem Friedensvertrag, der den Aufständischen immerhin eine gewisse politische Teilhabe garantierte. Alle anderen bewaffneten Bewegungen wurden von Militärdiktaturen brutal zerschlagen.

Die Oligarchie hat also ihre Privilegien mit der Hilfe der Armee verteidigt. Nur eines hatte sich bei der in den 1980er Jahren beginnenden Rückkehr zur Demokratie verändert: Seither gilt überall das allgemeine Wahlrecht. Die Eliten, die sich vorher im Wesentlichen nur selbst gewählt hatten, müssen sich nun dem Volk stellen.

Sie nutzen dabei eine Wirtschafts- und Sozialstruktur, die seit der Kolonialzeit besteht. Die Eroberer waren von ihrer jeweiligen Krone mit Grundbesitz belohnt worden. Die auf diesem Boden lebende eingeborene Bevölkerung bekamen sie einfach dazu. Diese faktischen Leibeigenen waren an die Güter und damit an deren Besitzer gebunden. Der beutete sie zwar aus, garantierte aber gleichzeitig ihre Existenz. Diese enge feudale Bindung von Herr und Knecht ist bis heute ein Grundmuster lateinamerikanischer Politik: Wes Brot ich ess, des Lied ich sing – beziehungsweise: der bekommt meine Stimme. Ist eine persönliche Verpflichtung der Wähler gegenüber einem Kandidaten nicht durch Besitz- und Arbeitsverhältnisse gegeben, dann wird sie mit Wahlgeschenken hergestellt. Die politische Kultur Lateinamerikas ist bis heute von solchen persönlichen Bindungen geprägt. Wichtig ist die Führungsfigur, Parteien spielen nur eine untergeordnete Rolle. Sie sind meist nur inhaltsleere Hüllen und Wahlkampfmaschinen für einen Kandidaten. Man kann sie wechseln wie das Hemd. Im brasilianischen Parlament sitzen Abgeordnete, die schon fünf oder sechs verschiedene Parteien für sich genutzt haben.

Es gibt nur wenige Ausnahmen von dieser personenbezogenen Politik. Die christdemokratisch orientierten Parteien etwa sind Ausdruck der inzwischen entstandenen bürgerlichen Mittelschicht und ihres politischen Willens. Vor allem aber sind die Linksparteien am ehesten Programmparteien im mitteleuropäischen Sinn. Sie sind meist aus dem Widerstand gegen die Militärdiktaturen entstanden wie die Partei gewordenen ehemaligen Guerillas der FSLN in Nicaragua und der FMLN in El Salvador, aber auch die aus der Gewerkschaftsbewegung kommende Arbeiterpartei in Brasilien.

Das verlorene Jahrzehnt

Gleich nach dem Ende der Militärdiktaturen hatten sie keine Chance auf einen Wahlsieg: Zu groß war die Angst der Wähler vor den eben gebändigten Militärs. Sie fürchteten, diese könnten, sollte eine linke Regierung gewählt werden, noch einmal zuschlagen. Drohgebärden gab es genug. So folgten den Militärjuntas Präsidenten aus den hergebrachten Eliten – oder Technokraten, die so etwas wie deren Angestellte waren. Sie prägten die neoliberalen Jahre, die als verlorenes Jahrzehnt Lateinamerikas gelten: die Jahre der Strukturanpassungsprogramme und Privatisierungen, in denen sich alte und auch ein paar neue Oligarchen bereicherten und die ohnehin schon sehr breite Kluft zwischen vielen Armen und wenigen Reichen noch breiter wurde.

In Brasilien war die Kluft zwischen Arm und Reich so breit geworden, dass im Wahlkampf 2002 selbst Großunternehmer den Arbeiterführer Lula da Silva unterstützten, weil sie mit noch einer neoliberalen Regierung eine soziale Explosion fürchteten. In Argentinien kam Néstor Kirchner nach einem chaotischen Staatsbankrott mit fünf Präsidenten in vierzehn Tagen an die Macht, in Ecuador kehrte mit Rafael Correa nach zehn unruhigen Jahren, in denen sieben Präsidenten gestürzt worden waren, die politische Stabilität zurück.

Es waren die linken Regierungen, die Lateinamerika vor dem wirtschaftlichen und sozialen Absturz bewahrt haben. Natürlich waren sie dabei nicht frei vom Muster der ganz auf Personen zugeschnittenen politischen Kultur; und sie hatten ja auch charismatische Persönlichkeiten mit beeindruckender Geschichte. Da Silva und Kirchner waren von den Militärs verfolgt und inhaftiert worden, José Mujica, ehedem Guerillero und dann Präsident von Uruguay, war im Gefängnis grausam gefoltert worden. Evo Morales war vom bitterarmen Indígena-Jungen zum Chef der mächtigen Kokabauern-Gewerkschaft geworden. Auch Hugo Chávez kam aus einfachsten Verhältnissen und hatte das Militär zum Aufstieg genutzt. Mit seinem gescheiterten Putschversuch gegen die im Volk verhasste Elite von 1992 gewann er eher an Ansehen.

Die Dekade der linken Regierungen war nicht revolutionär

Allen diesen charismatischen Figuren ist nach dem verlorenen Jahrzehnt das gelungen, was Ernesto Laclau theoretisch vorgedacht hatte: Sie haben um ihre Person herum ein hegemoniales politisches Sammelbecken geschaffen, das weit über ihre ursprüngliche Klientel hinausreichte und Arbeiter, Unterbeschäftigte, Kleinbauern, Indígenas, Umweltschützer, Intellektuelle, große Teile der Mittelschicht und sogar einzelne Unternehmer umfasste.

Der Kapitalismus als Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell wurde dabei nirgendwo grundsätzlich in Frage gestellt. Die Dekade der linken Regierungen war nicht revolutionär; sie war ein Jahrzehnt der Sozialreformen. Am bekanntesten wurde die von da Silva in Brasilien aufgelegte Bolsa Família, mit der arme Familien einen Einkommenszuschuss erhalten, wenn sie ihre Kinder regelmäßig zur Schule und zur Gesundheitsvorsorge schicken. Das Modell wurde in vielen Ländern kopiert und an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst. Allein in Brasilien haben rund vierzig Millionen Menschen mit der Hilfe solcher Programme die Armut überwunden.

Heute funktioniert dieses Hegemoniemodell der Linken nicht mehr richtig. Zum Teil liegt das an ihrer wirtschaftspolitischen Kurzsichtigkeit. So gut wie alle Volkswirtschaften Lateinamerikas sind nach wie vor vom Export von Rohstoffen abhängig: Erdöl und Erdgas, Gold, Silber und Kupfer, Soja, Getreide und Fleisch. Programme zur Diversifizierung der Wirtschaft wurden, wenn überhaupt, nur zögerlich angegangen. Venezuela konzentrierte sich gar nur noch aufs Erdöl und vernachlässigte alle anderen Wirtschaftszweige. Das ging gut und schuf Einnahmen für Sozialprogramme, so lange die Rohstoffpreise auf dem Weltmarkt stiegen und stiegen. Nun aber brechen sie ein. In der Folge sind die vorher hohen Wachstumsraten geschrumpft oder haben sich ins Negative verkehrt.

Autor

Toni Keppeler

ist freier Journalist und berichtet für mehrere deutschsprachige Zeitungen und Magazine aus Lateinamerika.
Zur Wirtschaftskrise kam das Übel der Korruption, ein Phänomen, das aus rohstoffreichen Ländern bekannt ist: Je leichter es ist, den Reichtum einfach aus dem Boden zu holen, desto größer scheint die Versuchung für die Regierenden zu sein. Auch ehemalige Befreiungsbewegungen sind dagegen nicht gefeit. Zwar sind vom derzeit größten Korruptionsskandal – den Milliarden schweren Schmiergeldzahlungen in Brasilien – überwiegend konservative Politiker betroffen. Aber eben auch prominente Vertreter der Arbeiterpartei.

Diese Kombination aus Krise und Korruption hat die linken Regierungen schwach gemacht. Charisma und Visionen, die ihre Wählerschaft zusammengehalten hatten, sind verblasst, statt linker Hegemonie entstehen wieder mehr und mehr partikulare Interessen. Von den Menschen aber, die im Jahrzehnt der Sozialreformen die Armut überwunden haben, will keiner, dass dies alles wieder rückgängig gemacht wird. Sie haben nicht nur von linken Regierungen profitiert; sie haben darüber an Selbstbewusstsein gewonnen. Mit ihnen muss in Zukunft jede konservative Regierung rechnen, die zurück will zu den alten oligarchischen Zuständen. Die Bewegungen in Lateinamerika, die in Europa abschätzig als populistisch bezeichnet werden, haben dort die Demokratie vorangebracht.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2017: Die Versuchung des Populismus
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