Sufis in Gefahr

Pakistan
In Pakistan nehmen die Übergriffe auf Anhänger eines moderaten und friedlichen Islams zu. Den Extremisten sind die ein Dorn im Auge, und der Staat schützt sie zu wenig.

Mitte Februar riss im Sufi-Schrein von Lal Shahbaz Qalandar in Südpakistan ein Selbstmordattentäter 90 Menschen in den Tod. Hunderte Pilger waren dort zum Tanzritual versammelt. Wenig später bekannte sich die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) zu dem Anschlag. Er gilt als einer der schwersten in der Geschichte Pakistans.

Der Schrein von Lal Shahbaz Qalandar in Sehwan hat eine besondere Bedeutung. Denn der Gelehrte und Dichter aus dem 12. Jahrhundert ist eine Heiligenfigur, die weit über Pakistans Grenzen hinaus einen geradezu legendären Charakter erlangt hat. Lal Shahbaz Qalandars Lieder und Gebete spielen in der Identitätsbildung der Sufis eine wichtige Rolle.

Sein Schrein, gut dreihundert Kilometer nordöstlich von Pakistans größter Stadt Karatschi, steht als Symbol für das Kulturerbe des Sufismus überhaupt. Somit traf die Attacke in der Provinz Sindh, die sich einer Welle der Gewalt gegen die Sufis in Pakistan anschloss, mitten ins Herz jener islamischen Tradition, der die Fundamentalisten feindlich gegenüberstehen. In der Menschenmenge verloren besonders viele Frauen und Kinder ihr Leben.

Der Sufismus wird gerne auch als mystische Dimension des Islam bezeichnet. Er stellt die innere Bedeutung der Glaubenspraxis über die buchstabentreue Auslegung der heiligen Schriften und den unbedingten Gehorsam an die Gebote. In Südasien lebten vor allem wandernde Sufi-Prediger mit Charisma, Poesie und Gesang eine lebensbejahende Form der Religionsausübung vor und trugen so zur Verbreitung des Islams bei.

Über die Jahrhunderte bildete sich auf dem Subkontinent eine islamische Volkskultur heraus, die zutiefst von den Lehren des Sufismus geprägt ist. Oft flossen islamische Elemente mit den bereits bestehenden Bräuchen des Hinduismus und Buddhismus zusammen. Musik und Tanz an den Sufi-Schreinen Indiens und Pakistans zeugen heute von dieser im Kern pluralistischen Tradition. In Pakistan fühlt sich nach wie vor die große Mehrheit der Muslime diesem Erbe zugehörig. In genaue Zahlen lassen sie sich jedoch nicht fassen, zumal schon der Titel „Sufi“ keine etablierte Definition besitzt.

In der Provinz Sindh haben sich die spirituellen Traditionen in besonderem Maße vermischt. Hier leben die meisten der schätzungsweise zwei Millionen pakistanischen Hindus. Am Schrein von Lal Shahbaz Qalandar sind sie genauso willkommen wie Muslime und Christen. Einer der Schreinwächter in Sehwan, die über Erbfolge bestimmt werden, ist bis heute ein Hindu. Für das Blutbad sei wohl die Präsenz von Hindus ein wichtiges Motiv gewesen, genauso wie die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen an dem Ritual, meint  der Münchener Anthropologe Jürgen Wasim Frembgen, der seit Jahren zum Sufismus in Pakistan forscht.

Die brutalen Attacken auf Sufi-Schreine sind eine verhältnismäßig neue Entwicklung in Pakistan: Der erste registrierte Überfall auf einen Sufi-Schrein ereignete sich im Jahr 2007. Seitdem hat es Anschläge in allen Provinzen des Landes gegeben, bei denen Hunderte Sufis ums Leben kamen. Analysten sehen die Angriffe als Teil einer größeren Strategie muslimischer Extremisten, mehr Macht im Land zu erlangen. Dazu gehören auch Zwangskonversionen von Hindus und Angriffe auf religiöse Minderheiten.

Islamisten wie der IS oder Splittergruppen der Taliban erhalten öffentlichen Zuspruch von prominenten Predigern wie Abdul Aziz von der Roten Moschee in Islamabad. Er hatte das Massaker an 140 Schulkindern in Peshawar im Dezember 2014 gerechtfertigt. Während das Hauptziel der sunnitischen Extremisten die Schiiten sind, deren Islam als häretischer Unglaube angesehen wird, versuchen die Terroristen  auch die in ihren Augen „unislamischen“ Ausdrucksformen des Sufismus auszuradieren.

Das Erbe der Sufis in Pakistan wird angesichts dieser Angriffe immer mehr zum bedrohten Kulturgut. „Die Feste und Riten an den Schreinen werden zwar weiter gefeiert. Aber es ist zu beobachten, dass die Zahl der Pilger Jahr für Jahr etwas zurückgeht“, sagt der Anthropologe Frembgen. Die populäre Sufi-Tradition repräsentiere einen Islam, der keine Lobby und keinen Rückhalt bei den Mächtigen hat. „Aber er wird weiterleben, weil er den Sehnsüchten der Armen auf dem Land und in den Slums der Städte am weitesten entspricht.“ Die Rituale und Gebete, die Musik und der Tanz erfüllten das Bedürfnis nach Geborgenheit und spiritueller Erfüllung im harten Alltagskampf.

Den ideologischen Nährboden für Anschläge auf Sufis durch Gruppierungen wie den IS oder die Taliban liefert eine ultra-orthodoxe Auslegung des Islams. Der Fundamentalismus der Salafisten und Wahhabiten ist ein Import aus Saudi-Arabien, der mit der über Jahrhunderte gelebten Ausübung der Religion in Pakistan nur wenig zu tun hat. Im Zuge des vom US-amerikanischen Geheimdienst CIA gesteuerten Widerstands gegen die Sowjetunion im Afghanistan-Krieg der 1980er Jahre wurde das Land zur Schmiede von Gotteskriegern. Damals flossen unter dem Regime des Militärdiktators Zia ul-Haq Millionen von US-Dollar in den Aufbau von Koranschulen, die aus jungen Männern radikale Dschihadisten machen sollten.

Seit Jahrzehnten investiert Saudi-Arabien zudem kontinuierlich seine Ölmillionen in die wahhabitische Mission, also die Verbreitung jener fundamentalistischen Auslegung des Islams, auf die sich der saudi-arabische Staat gründet. Über großzügige Subventionen, Moscheebauprojekte und die Errichtung ideologisch getrimmter Koranschulen hat das saudische Großprojekt einen irreparablen Schaden in Südasien angerichtet. Auch wenn die Verfechter der wahhabitischen Spielart des Islam nicht direkt zum Terror aufrufen, haben sie ein Klima geschaffen, das den Terrorismus in Pakistan befördert hat.

Innerhalb von zwei Generationen, die mit einer engstirnigen Islam-Auslegung infiziert wurden, hat sich die Einstellung vieler Muslime in Pakistan gewandelt. Sufis werden zunehmend als „Ungläubige“ etikettiert, Schreine zu Stätten der Gotteslästerung erklärt. Um den Anfeindungen zu entgehen, nehmen immer mehr Sufis konservative Einstellungen an und beginnen selbst, die Sitten ihrer Vorfahren zu verurteilen. Auf diesem Nährboden der Intoleranz kann sich der IS-Terror leichter legitimieren.

Die Regierung in Islamabad tut wenig, um dieser Entwicklung entgegenzusteuern. Statt Lehrpläne zu entwickeln, nach denen die jungen Pakistaner Respekt vor den religiösen Traditionen ihres Landes lernen, lässt die Politik den wahhabitischen Missionaren freie Hand. So kann das Vakuum einer mangelhaften staatlichen Bildungspolitik weiter mit ideologischem Sprengstoff gefüllt werden. Da die Koranschulen in vielen Regionen die einzigen Schulen sind, spielen sie eine unverzichtbare Rolle in der Bildung von Millionen Pakistanern.

Staatliche Pläne zu Reform dieser Schulen sind zwar vorhanden, wurden jedoch nie verwirklicht. Vereinzelte Modernisierungsprogramme konnten nur wenig am Kernproblem ändern: Was tatsächlich an den Schulen gelehrt wird, ist weitgehend unbekannt und unkontrolliert. Hinter der Untätigkeit der Regierung steht auch ihre Angst, mit einem Eingriff in das Milieu der Koranschulen die mächtigen konservativen Kleriker und Prediger zu verärgern, die großen Einfluss auf die öffentliche Meinung haben und Menschen politisch mobilisieren können.

Auch beim Schutz der Sufis versagt der Staat. Im Juni 2016 wurde der der beliebte Sufi-Sänger Amjad Sabri in Karatschi von Extremisten erschossen. Danach stellte sich heraus, dass er zuvor bei den Provinzbehörden um Polizeischutz gebeten hatte. Der Sänger hatte vor seiner Ermordung vermehrt Todesdrohungen erhalten. Die Sicherheitsschleusen an den Schreinen haben sich ebenfalls wiederholt als unzureichend erwiesen. Kameraaufnahmen kurz vor dem Anschlag in Sehwan zeigen den Attentäter, wie er sich unbekümmert an einem Polizisten vorbeidrängt. Verschärfend hinzu kamen verheerende Mängel in der Infrastruktur: Kaputte Straßen und fehlende Krankenhäuser erschwerten die Versorgung der vielen Verwundeten nach dem Attentat.

Autor

Marian Brehmer

ist freier Journalist und Autor mit dem Schwerpunkt islamische Kultur von der Türkei bis Indien. Er lebt in Istanbul.
Kurz nach dem Massaker führte die pakistanische Armee zwar eine Großoffensive gegen den IS durch, bei der nach Regierungsangaben Dutzende Kämpfer getötet wurden. Dennoch kritisieren viele in Pakistan, es fehle der Politik am Willen, ernsthaft gegen islamistische Terrorgruppen vorzugehen. Medienberichte weisen zudem immer wieder auf weitreichende Verstrickungen des pakistanischen Geheimdienstes ISI mit den Taliban hin.

Nach dem Anschlag von Sehwan stellt sich dringender denn je die Frage, ob sich das tolerante und pluralistische Erbe der Sufis in Pakistan behaupten kann. Denn für die Gesellschaft steht viel auf dem Spiel. „Sufis, die in Orden oder Bruderschaften organisiert sind, ziehen sich zunehmend aus dem öffentlichen Leben zurück und wenden sich nach innen“, sagt Jürgen Wasim Frembgen. Damit überließen sie zunehmend den Fundamentalisten das Feld.

Dabei gibt es kein besseres Mittel gegen den Islamismus als den Sufismus. Auch in Europa wird die Forderung nach westlichem Beistand für die Sufis lauter. Der deutsche Schriftsteller Ilija Trojanow forderte im vergangenen Sommer in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ mehr Unterstützung für die Sufis und bezeichnete sie „als die wichtigsten Gegner der Fundamentalisten. Wo sich ihr Einfluss hält, wird der Extremismus in Schach gehalten.“

Am Schrein von Lal Shahbaz Qalandar jedenfalls ging der Tanz schon wenige Stunden nach dem Blutbad weiter. Eine Woche nach dem Anschlag reisten zahlreiche Sufis und Intellektuelle aus dem ganzen Land zum Grabmal, darunter auch eine bekannte pakistanische Performance-Künstlerin, die sich vor dem Schrein in Trance tanzte. Ihr Solidaritätsakt, tausendfach geteilt in den sozialen Medien, erhielt viel Zuspruch. Das lässt hoffen, dass die pakistanischen Sufis bereit sind, ihre tolerante Lebensart zu verteidigen.

 

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erschienen in Ausgabe 7 / 2017: Die Wüste lebt
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