Der Kick beim Schuften

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Drogentrips
Tramadol
Ein billiges Schmerzmittel macht in großen Teilen Afrikas immer mehr Menschen abhängig. Der illegale Handel damit blüht.

Für einen Mann, der schon einmal eine flüchtende Kuh zu Boden gerungen hat, wirkt Ali (Name geändert) schüchtern und still. Mit dieser Tat hat er es zu einigem Ruhm in den Gassen von Newtown, einem Vorort von Accra in Ghana, gebracht. Aber davon möchte er nichts mehr hören. Er fühlt sich als neuer Mensch, seit er vor vier Monaten beschlossen hat, auf Tramadol zu verzichten – ein synthetisches Opioid, das als Schmerzmittel verabreicht wird.

Es gehört nicht zu den stärksten Schmerzmedikamenten, wird aber in Afrika gerne verschrieben. Denn es unterliegt im Unterschied zu anderen Opioiden wie Methadon und Fentanyl keinen internationalen Regelungen. Folglich ist es billig und für die Patienten leicht zu bekommen. Ärzte verschreiben Tramadol gegen OP-Schmerzen, bei orthopädischen Beschwerden und Krebsleiden. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen führt Tramadol auf ihrer Liste der lebenswichtigen Medikamente.

In Gabun kämpfen die Lehrer mit einer Drogenkrise

Doch in den vergangenen zehn Jahren ist der nichtmedizinische Gebrauch von Tramadol, das einen Rauscheffekt ähnlich Heroin erzeugt, dramatisch gestiegen. In Ghana wird das Medikament unter dem Handelsnamen Tramal vertrieben, ist aber so beliebt, dass die Konsumenten es nur „Tramore“ nennen. In Gabun, wo es als „Kobolo“ bekannt ist, kämpfen die Lehrer mit einer Drogenkrise unter den älteren Schülern. In Khartum kann man sich an manchen Straßenständen eine Tramadol-Tablette in seinen Tee werfen lassen.

Im Januar musste sich der nigerianische Rapper Olamide für seinen Hit „Science Student“ rechtfertigen. Die Rundfunkaufsicht hatte den Song, in dem von Tramadol die Rede ist, als „nicht sendetauglich“ gestuft, weil er „das Thema Drogen lasterhaft behandelt und ihren Konsum unterschwellig gutheißt“. Der Sänger führte zu seiner Verteidigung an, er behandle lediglich ein weithin ignoriertes Pro­blem, das unter jungen Nigerianern auf den Straßen von Lagos grassiere.

Für Ägypten ist die Krise dank einer Studie des Gesundheitsministeriums und des Büros der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) gut dokumentiert. Sie kam zu dem Ergebnis, dass 100.000 Personen opioidabhängig sind, davon die Hälfte von Tramadol. Mehr als zwei Drittel der Menschen, die sich in staatlichen Einrichtungen einer Suchtbehandlung unterziehen, sind süchtig nach Tramadol.

Manche Bauern geben sogar ihrem Vieh Tramadol

Ali nahm die ersten Tramore-Tabletten im Jahr 2007, als er auf dem Holzmarkt von Accra zu arbeiten begann. Das Mittel half ihm und seinen Kollegen, die schwere Arbeit zu ertragen und linderte die Schmerzen, die das Tragen der Lasten verursachte; so entwickelte er die Unempfindlichkeit, die man braucht, wenn man es mit einer Kuh aufnehmen will. Manche Bauern geben sogar ihrem Vieh Tramadol, damit es beim Pflügen länger durchhält oder die Wanderungen unter sengender Sonne zu den Weiden durchsteht. Doch Tramadol ist in Afrika nicht nur als Schmerzmittel bekannt. „Ich habe es vor dem Sex genommen. Es macht mich stärker“, sagt Ali verlegen. Die Forschung führt die aphrodisierende Wirkung darauf zurück, dass es die Ejakulation verzögert.

Die Tramadol-Konsumenten haben auch das Interesse des organisierten Verbrechens geweckt, das Tramadol über die schwach gesicherten afrikanischen Grenzen schmuggelt. Nachdem Ägypten (wo allein im Jahr 2012 620 Millionen Tabletten beschlagnahmt wurden) verstärkt illegalen Importen entgegentritt, wurde Libyen aufgrund seiner politischen Instabilität das neue bevorzugte Ziel.

Im vergangenen November beschlagnahmten italienische Ermittler eine für Libyen bestimmte Tramadol-Lieferung aus Indien im Wert von 50 Millionen Euro. Sechs Monate zuvor hatten sie eine Lieferung im Wert von 75 Millionen Euro abgefangen. Die Tabletten waren vermutlich für den Islamischen Staat in Libyen bestimmt. In jüngster Zeit ist der Hafen von Cotonou in Benin aufgrund der relativ schwachen Zollkontrollen zu einem beliebten Umschlagplatz geworden. 2015 wurden dort 40 Millionen Tabletten Tramadol sichergestellt.

Eine Geldquelle für al-Qaida

Von Benin aus nehmen die Tabletten ihren Weg quer durch Afrika und die Sahelzone, bis sie in die Hände von Terrorgruppen wie al-Qaida gelangen, die den illegalen Handel damit laut UNODC zu einer ihrer Finanzierungsquellen gemacht haben. Das Mittel findet sich in den Taschen gefangen genommener Boko-Haram-Mitglieder, bei getöteten Kämpfern und bei Selbstmordattentätern.
Tramadol wird vom Internationalen Suchtstoffkontrollrat auf Wunsch der Weltgesundheitsorganisation (WHO) international nicht als Droge gelistet. Die WHO befürchte, dadurch den legalen Einsatz des Mittels in den Entwicklungsländern zu erschweren, in denen eine effektive Schmerzbehandlung schon jetzt zu kurz kommt, sagt Martins Ekor, Professor für Pharmakologie an der Universität von Cape Coast in Ghana. „Es besteht die Sorge, dass unter einer internationalen Kontrolle des medizinischen Einsatzes von Tramadol vor allem die Schmerzpatienten leiden würden.“

Autor

Kwasi Gyamfi Asiedu

ist freier Journalist in Accra, Ghana.
Weil eine internationale Regulierung fehlt, kann Tramadol sehr billig produziert werden. China und Indien sind die Hauptexporteure des Mittels geworden, nachdem die Patente der ursprünglich deutschen Hersteller ausgelaufen sind. Die Generikaproduzenten in Guangzhou und Mumbai haben in den vergangenen Jahren die Dosierung der Tabletten, die zuvor 50 oder 100 Milligramm Wirkstoff enthielten, auf rund 250 Milligramm erhöht. Sie müssen weder Produktionsgrenzen einhalten noch dokumentieren, wie viele Pillen sie herstellen. Sie sind auch nicht verpflichtet, die Länder, in die sie Tramadol exportieren, vorab zu informieren. Die Pharmafabriken können einfach so viele Tabletten ausspucken, wie sie wollen.

Anfangs griff Ali nur gelegentlich zu Tramadol, um sich die Arbeit zu erleichtern. Aber bald stellte er fest, dass er abhängig geworden war. Er nahm die Tabletten auch bei geselligen Gelegenheiten und an Tagen, an denen er gar nicht arbeitete. Ein paar Tramadol-Tabletten, mit Energy Drinks oder Fruchtsaft hinuntergespült, um den bitteren Nachgeschmack zu vermeiden, sind eine gesellschaftsfähigere und diskretere Art, high zu werden, als der verräterische Geruch eines Joints. „Wenn ich es heute nehme und morgen damit aufhöre, dann fühle ich mich schwach“, beschreibt Ali die Entzugserscheinungen, zu denen Übelkeit gehört. Er verträgt mittlerweile weniger, und er hat körperlich abgebaut, eine Folge seines schwindenden Appetits. Und er hat schon mehr als eine Überdosis hinter sich. „Man sitzt einfach so da, wird auf einmal ganz starr und kippt vom Stuhl. Nach zwei, drei Minuten kommt man wieder zu sich. Man kapiert gar nicht, was passiert ist, und plötzlich liegt man auf dem Boden“, sagt Ali. Er vermutet, dass einige seiner Freunde an einer Überdosis gestorben sind, womöglich war auch Alkohol im Spiel. Andere bekamen Krampfanfälle, eine der häufigsten Nebenwirkungen, wenn Tramadol überdosiert wird.

Doch Geschichten wie die von Ali bleiben weitgehend ungehört. Etliche afrikanische Länder stehen vor einer regelrechten Drogenkrise, von der die offiziellen Stellen gar nichts zu wissen scheinen. Die Geißel Tramadol findet in Afrika weder in den Medien noch bei den Regierungen Beachtung, weil ihre Opfer nicht aus dem Freundes- und Familienkreis der afrikanischen Oberschicht stammen.

Die Mehrheit der Betroffenen gehört den unteren Gesellschaftsschichten an. Sie müssen viele Stunden hart arbeiten, um über die Runden zu kommen, und verfallen deshalb dem Tramadol. Es sind die Okada, wie die Motorradtaxifahrer von Nigeria genannt werden, die Träger und Karrenschieber auf den Märkten, die Arbeiter in den illegalen Minen und die Busfahrer. Überdosis, Krampfanfälle, Erbrechen, Koma und Herzkreislaufversagen – von all dem bekommt die privilegierte Schicht nichts mit.

WHO: "Tramadol hat nur geringes Suchtpotenzial"

Die Situation hat einige Parallelen mit der Opioidkrise in den USA, die erst in den vergangenen beiden Jahren von den Medien als Problem wahrgenommen wurde. Im Oktober 2017 rief Präsident Donald Trump ihretwegen den nationalen Gesundheitsnotstand aus, was mehr Mittel für die Suchtbehandlung bedeutet. Die afrikanischen Staaten konzentrieren sich unterdessen weiter darauf, den Cannabiskonsum zu kriminalisieren, während Tramadol problemlos über die Grenzen gelangt und das Leben ihrer Bürger ruiniert. Viele hatten keinerlei Erfahrung mit Drogen, bis ihnen eines Tages ein Kumpel eine „Potenzpille“ empfahl.

Langsam wächst auch in Afrika das Problembewusstsein. In vielen Ländern ist es nicht verboten, Tramadol ohne Rezept einzunehmen, doch es werden erheblich mehr illegale Lieferungen beschlagnahmt und Dealer verhaftet. „Wir haben Tramadol auf die Liste der regulierten Substanzen gesetzt, nun benötigt man eine Einfuhrerlaubnis und muss über die Verwendung Rechenschaft ablegen“, sagt Olivia Boateng von der ghanaischen Behörde für Lebensmittel und Medikamente. Im März kündigte der Gesundheitsminister vor Abgeordneten weitere Einschränkungen an. Dazu gehört „eine Übereinkunft mit dem Verband der Pharmazeuten, Tramadol in Zukunft in den Apotheken nicht mehr offen und sichtbar im Regal zu führen, sondern unter Verschluss zu halten“.

Solche bürokratischen Hemmnisse, die ähnlich auch in Nigeria und Ägypten beschlossen wurden, sind exakt der Grund, warum die WHO nun schon fünf Mal davon Abstand genommen hat, Tramadol auf die Liste der international regulierten Opioide zu setzen. Neben der Befürchtung, dass dies zu einer Verknappung des Schmerzmittels in Kliniken führen würde, ist sie überzeugt, dass „Tramadol nur geringes Suchtpotenzial“ hat, jedenfalls verglichen mit anderen Opioiden. Daran ändert für die WHO auch die Tatsache nichts, dass Tramadol laut neuen Studien bei oraler Einnahme stärker wirkt – ältere Studien hatten sich auf die intravenöse Verabreichung konzentriert.

Die Tatenlosigkeit der internationalen Gesundheitsbehörde macht es schwer, den illegalen Tramadol-Handel zu bekämpfen. Bei allen Versuchen, illegale Einfuhren einzudämmen – abschotten können sich Länder wie Ghana, Nigeria und Ägypten nicht. Wenn die WHO nichts unternehmen wolle, müssten vor allem die Länder, die sich in der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft zusammengeschlossen haben, ihre Zusammenarbeit verstärken, fordert der Pharmakologe Martins Ekor. „Die Situation verlangt nach gezielten lokalen und regionalen Maßnahmen zur Unterbindung illegaler Aktivitäten.“ Zudem müsse das Ausmaß des Missbrauchs sorgfältig überwacht werden. Dies sei „sinnvoller und effektiver als internationale Kontrollen, wenn man den nichtmedizinischen Konsum von Tramadol und anderen Drogen eindämmen will“.

Aber auch medizinische Maßnahmen sind nötig, um den Süchtigen beim Entzug zu helfen. Ali und andere Abhängige, die gemerkt haben, wie schädlich sich Tramadol auf ihr Leben auswirkt, stehen derzeit ganz allein da. Ali hat seinen Job auf dem Holzmarkt aufgegeben, sich andere Freunde gesucht und hält sich von den Orten fern, an denen die rotgrünen Pillen für weniger als 25 Cent verkauft werden. Aber es ist schwer zu sagen, ob Alis selbstorganisierter Entzug ohne Unterstützung gelingen wird. Schließlich sagt er selbst: „Tramore ist einfach zu verlockend, wenn man das schluckt, wird das Leben wunderschön.“

Der Beitrag ist zuerst auf dem Online-Portal „Quartz Africa“ erschienen. Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 6 / 2018: Neu ist Kult
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