Die Jugend hat die Schnauze voll

Demonstrationen
In Algerien ist der greise Präsident Bouteflika Geschichte. Wie es in dem nordafrikanischen Land weitergeht, hängt davon ab, für welchen Kurs die Armee sich entscheidet.

Als Algeriens Präsident Abdelaziz Bouteflika im Februar ankündigte, für eine fünfte Amtszeit zu kandidieren, rief das eine unerwartete Protestwelle hervor – friedlich und von bis dahin nicht gekanntem Ausmaß. Algeriens Staatschef musste darauf verzichten, ein neues Mandat anzustreben. Doch das genügt den Demonstranten nicht. Seit dem 22. Februar prangern Hunderttausende jeden Freitag nach dem Gebet das „System Bouteflika“ an, das Algerien in eine politische und wirtschaftliche Sackgasse geführt hat.

Dieses System war gekennzeichnet von mächtigen klientelistischen Netzwerken. Nur mit ihnen konnte Abdelaziz Bouteflika sich von 1999 bis 2019 an der Staatsspitze halten: Der Anstieg der Staatsausgaben ermöglichte es in diesen zwanzig Jahren, Allianzen zwischen der Präsidentschaft, den wichtigsten Gewerkschaften und dem Arbeitgeberverband ­(Forum des chefs d’entreprises) mit Geldflüssen zu befestigen. Zugleich stärkte die Aufstockung des Verteidigungsbudgets die Position des Stabschefs gegenüber anderen hochrangigen Militärs.

Von 2003 bis 2013 – in der Zeit also, als der Erdölpreis hoch war – wandte die Regierung die Hälfte der Steuereinnahmen aus dem Erdöl, also etwa 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, für Sozialtransfers auf. So wurden die zerstörerischen Auswir­kungen des Verfalls der Erdölpreise aus der Zeit von 1986 bis 2001 abgemildert. Reichlich fließende Steuer­einnahmen machten es möglich, jene Netzwerke zu formen, die für die Stabilität des Regimes entscheidend waren.

Bouteflika von einem Schlaganfall geschwächt

Als Folge erklärte im Januar 2019 der Chef der Gewerkschaft Union générale des travailleurs algériens (UGTA), Abdelmadjid Sidi Saïd: „Im Namen der Arbeiter, Arbeiterinnen und Rentner ist Bouteflika unser Kandidat.“ Begrüßt wurde die bereits absehbare Kandidatur Bouteflikas im Januar unter anderem auch vom Unternehmerverband, von den drei Parteien des Regierungsbündnisses, von der Vereinigung der Freiheitskämpfer aus dem Dekolonisationskrieg gegen Frankreich und vom Stabschef der algerischen Armee, Ahmed Gaïd Salah. Zwei Oppositionsparteien waren isoliert und kündigten einen friedlichen Boykott der Wahlen an. Der Chef der gemäßigten islamistischen Partei Mouvement de la société pour la paix, Abderrazak Makri, dagegen sagte im Februar, Bouteflika kandidiere nicht im eigenen Interesse, sondern andere zögen den Nutzen daraus.

In der Tat war Abdelaziz Bouteflika von einem Schlaganfall im Jahr 2013 geschwächt und seitdem krank. Er strafte alle medizinischen Prognosen Lügen, indem er seither dem Tod entkam. Und sein Überleben hat Algerien gezwungen, in einem absurden politischen System zu verharren: Jeder wartete auf den Tod des Präsidenten, um Veränderungen ins Auge zu fassen.

Die Angst vor einem erneuten Bürgerkrieg ist vergessen

Bereits Bouteflikas Wahl für eine vierte Amtszeit im Jahr 2014 hatte vielfach Kritik hervorgerufen – zu deutlich schien der Staatschef nicht mehr in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Aber das Trauma des Bürgerkrieges von 1991 bis 1999 trieb die algerischen Familien noch immer um; sie wollten sich nicht an politischem Protest beteiligen, weil sie ein Wiederaufleben der Gewalt befürchteten. Die Angst, das Land könnte in einen Krieg zurückfallen wie in Libyen oder Syrien, nutzten Algeriens Machthaber geschickt aus. Beim Umgang mit der Gefahr der „arabischen Revolten“ in den Nachbarländern funktionierte das so gut, dass Algeriens Ministerpräsident  Abdelmalek Sellal im März 2014 erklärte: „Der arabische Frühling ist eine Mücke, die wir mit Mückenspray vernichten werden.“

Autor

Luis Martinez

ist Forschungsdirektor am Centre d’études et de recherches internationales in Paris und Experte für den Maghreb.
Im Jahr 2019 hat sich dies grundlegend verändert. Die algerische Gesellschaft hat ihre Hemmungen verloren. Sie bringt nun nachdrücklich zum Ausdruck, welche Gefühle eine mögliche fünfte Amtszeit des schwer kranken und seit sechs Jahren im öffentlichen Raum praktisch abwesenden Bouteflika hervorruft: Scham, Wut und das Empfinden einer Demütigung.

Drei Hauptgründe für diese Veränderung sind erkennbar. Erstens ist die Angst, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat, inzwischen verblasst. Die algerische Jugend von heute nimmt auf diese Zeit keinen Bezug mehr und strebt nach ganz anderen Dingen. Zweitens funktioniert es nicht mehr wie früher, wenn die Machthaber die Lage in der Region instrumentalisieren: Der „Angsteffekt“ der Kriege in Syrien oder in Libyen lähmt die algerische Gesellschaft nicht mehr. Und der dritte wichtige Grund ist, dass in Algerien mit dem Verfall der Erdölpreise ab 2014 eine Politik der Steuererhöhungen und der Begrenzung von Importen begonnen hat. Insgesamt ist weniger Geld zum Umverteilen vorhanden, und das hat zu einem zunehmenden sozialen Verdruss geführt, der 2019 schließlich explodiert ist.

Militärchef machte sich zum Sprecher der Demonstranten

Nachdem Bouteflika gezwungen war, auf seine Kandidatur zu verzichten, kündigte der scheidende Präsident große politische Reformen an; das Ziel sei nichts weniger, als den „Nationalstaat“ zu erneuern und eine neue Republik zu gründen. Der neu ernannte Ministerpräsident Noureddine Bedoui und der Vizeministerpräsident Ramtane Lamamra versprachen einen „umfassenden Dialog mit der Jugend und den politischen Kräften der Opposition“.

Das aber kam zu spät. Nach Meinung der Demonstranten, die aus der Bürgerbewegung hervorgegangen sind, musste Bouteflika zurücktreten – und mit ihm seine gesamte Entourage, sein „Clan“, seine „Bande“. Geschickt forderte Gaïd Salah, der Stabschef der Armee, ein Weggefährte von Bouteflika, den Präsidenten zum Rücktritt auf und machte sich selbst zum Sprecher für die Wut der Demonstranten.

Als Folge wurden innerhalb weniger Tage alle abserviert, die dem Staatschef nahestanden. Ali Haddad, der mächtige und steinreiche Chef des Arbeitgeberverbandes, kam ins Gefängnis von El Harrach, einem Stadtteil von Algier. Auch Saïd, der Bruder des Präsidenten, wurde verhaftet. General Tartag, der Chef der Sicherheitsdienste, wurde erst kaltgestellt und dann inhaftiert. Noch spektakulärer war die Verhaftung von General Tawfiq, dem früheren Chef der algerischen Geheimdienste, der als einer der einflussreichsten Männer im Land galt. Der Chef des mächtigen staatlichen Ölunternehmens Sonatrach, Abdelmadjid Sidi Saïd, wurde entlassen und der Leiter der Gewerkschaft UGTA musste auf Druck seiner Basis zurücktreten. Die Netzwerke des Präsidenten Bouteflika wurden demontiert.

Das Militär muss den Wandel anführen

Doch bisher reicht das den Demonstranten nicht. Sie fordern den Abgang des „ganzen Systems“. Innerhalb weniger Wochen fand sich Algerien am Beginn eines politischen Übergangs, auf den das Land nicht vorbereitet war. Da die politischen Parteien in Misskredit geraten waren, kam dem Militär die Aufgabe zu, einen Wandel anzuführen, der angesichts der damit verbundenen Ungewissheit die Armee eher schreckt. Das Scheitern des Ende der 1980er Jahre begonnenen Übergangs steht noch allen vor Augen.

Das algerische Militär hat allerdings heute nicht mehr das verabscheuenswürdige Image wie nach der blutigen Niederschlagung der Aufstände im Oktober 1988. Anders als Demonstranten der 1980er und 1990er Jahre äußerten die Demonstranten des Jahres 2019 keinerlei Hass auf das Militär.

Die Armee hat ihre Ausrüstung während des im Jahr 2000 begonnenen Jahrzehnts fortlaufend modernisiert. Die Militärausgaben sind von umgerechnet 2,7 Milliarden Dollar im Jahr 2000 auf 11 Milliarden im Jahr 2012 gewachsen, und Algerien ist im Zeitraum 2006 bis 2010 zum achtgrößten Waffenkäufer der Welt aufgestiegen. Unter General Ahmed Gaïd Salah, dem Vizeverteidigungsminister und Stabschef der Armee, wurde das Militär von Bouteflika verhätschelt. Dies erklärt, dass mit Ausnahme einiger einst mächtiger Generäle, die heute im Ruhestand sind, die Offiziere es vorgezogen haben, ihre lukrative Partnerschaft mit den politischen Institutionen fortzusetzen, statt deren Macht in Frage zu stellen.

Präsidentschaftswahl wurde verschoben

Wegen ihrer schweren Menschenrechtsverletzungen im Bürgerkrieg von 1991 bis 1999 waren die Militärführer stark in Verruf geraten. Danach wandten sie die Kunst der Tarnung an, ja, die des Beschwichtigens; sie verschwanden praktisch von der politischen Bildfläche und aus den Medien. Im Laufe der jüngsten zehn Jahre hat sich Algeriens Militär, von den politischen Geschäften entlastet, erheblich professionalisiert. Angesichts eines unsicheren regionalen Umfeldes bemüht es sich, den Ruhm vergangener Tage wiederzuerlangen. Hinter dem Aushängeschild seines achtzigjährigen Stabschefs, General Ahmed Gaïd Salah, profiliert sich eine Generation in den Fünfzigern, die für die Militärregionen und die wichtigsten operativen Einheiten der Streitkräfte verantwortlich sind. Sie scheinen zufrieden mit der Erneuerung des algerischen Militärs und möchten nie wieder einen Bürgerkrieg erleben.  

Nun aber hat das Militär nach Bouteflikas Rücktritt faktisch die Macht ergriffen. Damit hat es die Kritik der Demonstranten auf sich gezogen, die befürchten, dass Algerien sich in eine Richtung entwickelt wie Ägypten unter Präsident Abdal Fattah al-Sisi. In diesem Klima hat das Militär auf die Verfassung zurückgegriffen. Wie darin vorgesehen, wurde der Präsident des algerischen Senats, Abdelkader Bensalah, ein Gefolgsmann Bouteflikas, Anfang April für 90 Tage zum Übergangspräsidenten ernannt; in diesen drei Monaten sollte eine neue Präsidentschaftswahl ausgerichtet werden. Die eigentlich für den 4. Juli geplante Wahl hat der Verfassungsrat Anfang Juni allerdings verschoben – es hatten sich nur zwei Kandidaten für das Präsidentenamt beworben.

Viele Algerier leben in Armut

Dennoch ist für Algerien nun ein historischer Moment gekommen. Entweder legt das Militär die Grundlagen für einen neuen poli­tischen Pakt, der den Übergang zu einem neuen politischen Regime ermöglicht und den Staat gegenüber einer Jugend öffnet, die eine andere Zukunft erhofft als die der Auswanderung. Oder aber das Militär begnügt sich damit, das „System Bouteflika“ fortzuführen, und läuft damit Gefahr, zur Zielscheibe der Demonstranten zu werden. Dann würde ein Übergang zur Demokratie ausbleiben und Algerien stattdessen eine Verhärtung des Regimes drohen.

Der Übergang vollzieht sich in einem schwierigen ökonomischen Umfeld. Der Geldsegen aus dem Erdöl neigt sich dem Ende zu – die Einnahmen daraus betrugen im Jahr 2014 noch 112 Milliarden Dollar, 2017 waren es nur noch 49 Milliarden. Algeriens Devisenreserven sind von 200 Milliarden Dollar 2014 auf 50 Milliarden Dollar 2017 geschrumpft. Laut der Weltbank lebten 2015 von den rund 42 Millionen Algeriern 9 Millionen in Armut. Etwa 4 Millionen Menschen haben keinerlei soziale Absicherung und sind auf Einkommen aus der informellen Wirtschaft angewiesen.

Während Algeriens Erdöleinnahmen sinken, erwachsen dem Land im östlichen Mittelmeerraum mit Ägypten, Zypern und Israel ernsthafte Konkurrenten beim Export von Erdgas. Aus Erdöl und Gas stammen aber über 90 Prozent der algerischen Exporteinnahmen. Und der Importbedarf ist nach wie vor sehr groß: Immer noch werden mehr als 70 Prozent der Nahrungsmittel eingeführt, und die Militärausgaben sind nur geringfügig gesunken.

Hoffnung auf einen friedlichen Ausweg

Auch das regionale Umfeld ist alarmierend. Zu den Bedrohungen für Algerien zählen der Krieg in Mali, der Zusammenbruch Libyens und der Terrorismus in Tunesien. Zudem hat der Zusammenbruch des Islamischen Staates (IS) im Irak und in Syrien dazu geführt, dass mehr als 6000 Kämpfer des IS nach Afrika gezogen sind.

Angesichts dieser Probleme hoffen viele Partner Algeriens, dass das Land einen friedlichen politischen Ausweg finden wird. Die Präsidentschaftswahl, die auf unbestimmte Zeit verschoben wurde (Stand: Mitte Juni), wird ein Test für die Stabilität des Regimes sein. Die Demonstranten haben bereits konkrete Schritte beim Abbau des Bouteflika-Netzwerkes erreicht. Dies ist ein erster, sehr wichtiger Sieg. In Zukunft muss man aber darauf gefasst sein, dass Fortschritte mit großer Frustration und Unzufriedenheit einhergehen. Die Menschen können nicht die gleichen Erwartungen haben wie zum Beispiel in Tunesien; Vertreter der Bürgerbewegungen haben es bereits gesagt: Falls wir zu einer korrekt organisierten Präsidentschaftswahl kommen, wäre das schon ein enormer Fortschritt nach 20 Jahren der Wahlmanipulationen.

Aus dem Französischen von Bernd Stößel.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2019: Multilaterale Politik: Zank auf der Weltbühne
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