„Diktatur führt in Äthiopien nicht zum Frieden“

Ethnische Konflikte
Ein Putschversuch, zunehmende Gewalt zwischen ethnischen Gruppen, fast drei Millionen intern Vertriebene: Steht Äthiopien auf der Kippe? Nicole Hirt vom GIGA Institut sieht dafür keinen Anlass. Sie erklärt, warum nur mehr Demokratie den Vielvölkerstaat zusammenhalten kann.

Frau Hirt, im Ausland wird Ministerpräsident Abiy Ahmed, der seit einem Jahr im Amt ist, für seinen Reformkurs und seinen Friedensschluss mit Eritrea gefeiert. In Äthiopien hingegen eskaliert die Gewalt. Verliert die Regierung die Kontrolle?
Nun ja, dass die verschiedenen ethnischen Gruppen in Äthiopien auseinanderdriften, gibt es ja nicht erst seit Abiy Ahmed. Das gibt es seit Jahrhunderten und gehört zur äthiopischen Geschichte. Auch unter früheren Regierungen gab es ethnische Konflikte, etwa unter Kaiser Haile Selassie oder unter der Militärregierung des Derg bis 1991. Beide haben versucht, eine zentralistische Politik durchzusetzen und die Vorherrschaft der Volksgruppe der Amharen zu sichern. Auch damals schon hatte praktisch jedes äthiopische Volk eine Befreiungsbewegung, die Unabhängigkeit wollte, etwa die Eritreer, die Tigrayer, die Oromo, die Afar oder die Somalis.

Und dann kamen 1991 die Tigrayer an die Macht ...
... und die haben gesagt: Wir versuchen mal positiv mit der ethnischen Vielfalt umzugehen, indem wir jeder Gruppe mehr Rechte zuerkennen. Das hat in der Regierungspartei EPRDF, in der die größten ethnischen Gruppen vertreten sind, eine Zeitlang ganz gut geklappt. Aber letztlich musste auch die von Tigrayern dominierte EPRDF immer mehr Gewalt einsetzen, um das System stabil zu halten.

Bricht das System jetzt zusammen, da Abiy Ahmed den Griff der Regierung lockert?
Nein, das kann man so nicht sagen. Es gab schon seit 2005 und vor allem seit 2015 große Unruhen, und Abiy Ahmed ist vergangenes Jahr ja letztlich nur an die Macht gekommen, weil die Vorherrschaft der Befreiungsfront der Tigrayer in der EPRDF immer stärker herausgefordert wurde. Dann wurde Abiy Ahmed Ministerpräsident, ein Oromo, und er hat gesagt: Wir versuchen das mal nun mit weniger Gewalt und mehr Toleranz. Das Problem: Nach einem Attentat auf ihn im Juni 2018 hat er den von Tigrayern dominierten Sicherheitsapparat zerschlagen mit der Folge, dass ein gewisses sicherheitspolitisches Machtvakuum entstanden ist. Und das führt jetzt dazu, dass überall im Land die ethnische Gewalt wieder hochkocht.

Zurück zur Eingangsfrage: Verliert die Regierung die Kontrolle?
Ich denke nein. Was heißt die Kontrolle verlieren? Es gibt ja verschiedene Machtzentren in Äthiopien ...

Aber Ende Juni gab es einen Putschversuch gegen Abiy Ahmed ...
Das war im Regionalstaat Amhara, wo sich General Asaminew Tsige, ein amharischer Nationalist, an die Macht putschen wollte. Auch das fällt mehr in die Kategorie ethnischer Konflikt. Daraus würde ich nicht schließen, dass das ganze Land auseinanderzubrechen droht. Asaminew wollte vermutlich die gemäßigte amharische Regionalregierung stürzen und die alte Vorherrschaft der Amharen wieder herstellen.

Wie stark ist denn nun derzeit das Bestreben einzelner ethnischer Gruppen nach Unabhängigkeit? Bei Ihnen klingt es so, als sei das mehr oder weniger äthiopischer Normalzustand.
Wie gesagt, militante Unabhängigkeitsbewegungen gibt es schon lange. In den 1970er Jahren wollte jede äthiopische Gruppe unabhängig sein. Da ist sehr viel Propaganda von Nationalisten dabei, auch um die Bevölkerung zu mobilisieren.

Was sollte die Regierung jetzt tun?
Sie sollte jedenfalls den in der Verfassung verankerten ethnischen Föderalismus nicht wieder abschaffen und alles zentralistisch von Addis Abeba kontrollieren wollen. Das würde nach hinten losgehen und zu noch mehr Gewalt führen. Abiy Ahmed müsste als erstes einen funktionierenden, rechtsstaatlichen Sicherheitsapparat aufbauen, der für Ordnung und die Einhaltung der Gesetze sorgt, aber nicht die Menschenrechte mit Füßen tritt, wie das früher immer der Fall war. Das wird einige Anstrengungen erfordern. Abiy hat im Ausland enorme Erwartungen geschürt, alle dachten, er werde es jetzt richten. Aber es ist unmöglich, dass ein Mann alleine die jahrzehntelangen Probleme Äthiopiens löst und mal eben eine reibungslos funktionierende Demokratie einführt.

Ein junger Äthiopier hat mir mal gesagt, Demokratie sei aufgrund der ethnischen Konflikte in seinem Land leider nicht machbar.
Ich würde die Lage mit der früher in Europa vergleichen: Bei uns gab es vor 200 Jahren auch noch viele ethnische Konflikte, Bayern gegen Preußen und so weiter. Erst durch die Demokratie hat sich ein einigermaßen stabiles föderales System etabliert. In Äthiopien ist die Entwicklung mit Verspätung ähnlich. Insofern teile ich die Meinung nicht, Demokratie sei in Äthiopien nicht möglich. Bisher ist nur das Gegenteil bewiesen: Diktatur hat noch nie zu Frieden in Äthiopien geführt, es gab immer wieder Aufstände. Ich finde weiterhin, dass Abiy Ahmed auf dem richtigen Weg ist.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2019: Mission und Macht
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