Christus versus Pachamama

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Der Christus der Armen – Mitte 2015 überreicht Präsident Evo Morales in La Paz Papst Franziskus ein aus Hammer und Sichel zusammengesetztes Kruzifix. Die Skulptur stammt vom 1980 ermordeten Priester Luis Espinal.

Bolivien
Bibeln im Präsidentenpalast und Hetze gegen die indigene Bevölkerung: Nach dem Rücktritt von Präsident Evo Morales versuchen in Bolivien rechte Katholiken, die alte Ordnung wiederherzustellen.

Einige Tage, nachdem der bolivianische Staatspräsident Evo Morales unter dem Vorwurf der Wahlmanipulation im vergangenen November zum Rücktritt gezwungen worden war, hatte Boliviens neue Übergangspräsidentin ihren ersten öffentlichen Auftritt. Auf dem Balkon des Präsidentenpalastes in La Paz zeigte sich Jeanine Áñez, zuvor Senatorin aus den Reihen der schwachen Opposition, mit einer Bibel. „Diese Bibel ist sehr bedeutsam für uns. Gott ist unsere Kraft“, sagte die 52-jährige Politikerin aus dem nordöstlichen Department Beni und hielt ein in Leder eingebundenes Exemplar des Buchs der Bücher in die Kameras.

Die Anrufung des christlichen Gottes als Quelle politischer Macht mag in vielen Ländern üblich sein, für Bolivien ist es nach 14 Jahren unter Morales ein radikaler Bruch. Morales, der dem Volk der Aymara angehört, war der erste indigene Führer des Landes seit der Unabhängigkeit von der spanischen Kolonialherrschaft im Jahr 1825. Indigene Menschen und ihre Symbole wie die vielfarbige Wiphala-Flagge, die Boliviens zahlreiche indigene Gruppen repräsentiert, und das Andenkreuz, auch Chakana genannt, waren in seiner Amtszeit in den Machtzentralen der Hauptstadt La Paz und im ganzen Land allgegenwärtig.

Morales’ Partei MAS (Movimiento al Socialismo) besaß mit mehr als zwei Dritteln der Sitze eine große Mehrheit in beiden Kammern der Plurinationalen Legislativen Versammlung Boliviens, was es ihr ermöglichte, umfassende Gesetze und Reformen zu verabschieden. Die konservativen und liberalen Oppositionsparteien konnten den tiefgreifenden Veränderungen im Land nur mit wachsender Frustration hinterhersehen.

Die Aufklärung rund um die Wahl wird Historiker noch lange beschäftigen

Als der Oberste Gerichtshof des Landes 2016 den Weg für eine vierte fünfjährige Amtszeit von Morales freimachte, schlug ihre Verbitterung in offenen Zorn um. Anführer der Morales-Gegner wurde Luis Fernando Camacho, der einst eine katholisch-nationalistische Jugendgruppe geführt hatte und nun mit seinem Bürgerkomitee „Pro Santa Cruz“ Politik machte. Trotz aller Widerstände kandidierte Morales für eine weitere Amtszeit und lag nach der ersten Wahlrunde am 20. Oktober 2019 in Führung.

Doch die Opposition, unterstützt von der Organisation Amerikanischer Staaten, warf Morales Wahlmanipulation vor. Sie bezweifelte, dass er tatsächlich mehr als zehn Prozent Vorsprung vor dem zweitplatzierten Kandidaten hatte, womit er ohne Stichwahl automatisch zum Wahlsieger erklärt worden wäre. Es kam zu Protesten, und am 10. November forderte das Militär Morales zum Rücktritt auf. Nachdem mit ihm weitere hochrangige MAS-Funktionäre ihre Ämter aufgegeben hatten, fiel das Präsidentenamt der Rangfolge nach Jeanine Áñez zu. Viele Beobachter haben die Vorgänge als Staatsstreich gewertet.

Autorin

Matthew Peter Casey

lehrt lateinamerikanische Geschichte an der Arizona State University in den USA. Der Schwerpunkt seiner Forschung ist religiös motivierter Aktivismus in der Andenregion.
Die Aufklärung der Ereignisse rund um die Wahl wird Historiker noch über Generationen beschäftigen. Eins ist jedoch schon jetzt klar: Die Übergangsregierung wird von einem Rechtsaußenflügel geführt, der Stimmung gegen die indigene Bevölkerung macht, indem er sie als Heiden und Sozialisten charakterisiert. Das hat für viele Menschen verheerende Folgen.
In Bolivien leben elf Millionen Menschen, 41 Prozent von ihnen gehören laut der Volkszählung von 2012 der indigenen Bevölkerung an. Die Mehrzahl der übrigen Einwohner betrachtet sich als ethnisch gemischt. Während der längsten Zeit seiner Geschichte wurde Bolivien von den nichtindigenen Eliten in den Städten geführt. Die indigenen Arbeiter in den Bergwerken und auf den Feldern, die die Exportwirtschaft Boliviens seit der Kolonialzeit in Schwung gehalten haben, wurden vielfach als Sklaven, durch Schuldknechtschaft oder auf andere Weise ausgebeutet.

Die Religionszugehörigkeit verläuft in Bolivien nicht genau entlang der ethnischen Grenzen. Nur rund vier Prozent der Bolivianer geben an, indigene Religionsformen zu praktizieren. Die Mehrheit – ungefähr drei Viertel – sind Katholiken, und 18 Prozent gehören evangelikalen und anderen protestantischen Gruppen an. Religion, Ethnizität und Kultur sind in der gesamten Andenregion eng miteinander verwoben. Wie anderswo in Lateinamerika kombinieren auch in Bolivien viele Indigene den christlichen Glauben mit ursprünglichen religiösen Praktiken. Diese weit verbreitete kulturelle und religiöse Vermischung wurde von den Eliten nie gutgeheißen.

Katholische Republik nach dem Muster von Francos Spanien

Seit der Unabhängigkeit haben bolivianische Politiker vor allem das hispanische und katholische Erbe des Landes gefördert – nicht zusätzlich zur indigenen Geschichte, sondern unter deren Ausschluss. Im 20. Jahrhundert wurde das noch verstärkt. Indigene, die sich gegen die wirtschaftliche und soziale Benachteiligung wehrten, wurden brutal unterdrückt. Die bolivianische faschistische Partei agitierte für eine katholische Republik nach dem Muster von Francos Spanien; Generationen von Kindern aus der Elite lernten die Grundsätze des katholischen Nationalismus von ihren jesuitischen spanischen Lehrern. Es kam zu einer machtvollen Verquickung einer antiindigenen Haltung mit einem konservativen Katholizismus, wie sie in vielen lateinamerikanischen Ländern zu finden ist.

Morales hingegen, ein ehemaliger Kokabauer und Gewerkschaftsführer, sah in der Indigenität die Seele der nationalen Einheit Boliviens. Auf seine Initiative hin heißt Bolivien seit dem Jahr 2009 offiziell Plurinationaler Staat Bolivien, und per Gesetz sind nun 36 indigene Sprachen und Ethnien anerkannt. Auch das Recht der indigenen Gemeinschaften, ihre religiösen Traditionen auszuüben, stellte Morales unter Schutz. Unter anderem ließ er ein neues Regierungsgebäude errichten, dessen Architektur das indigene Erbe des Landes zum Ausdruck bringt. Das 29 Stockwerke hohe „Große Haus des Volkes“ verbindet ultramodernes Design mit indigener Kunst. Die Innengestaltung ist von Tiahuanaco inspiriert, einer etwa 60 Kilometer westlich von La Paz liegenden Ruinenstätte aus der Zeit vor der Inka-Zivilisation.

Morales, der nach seinem Rücktritt erst Asyl in Mexiko fand und sich derzeit in Argentinien aufhält, bemühte sich, die katholische Kirche vom bolivianischen Staat zu trennen. Boliviens neue Verfassung aus dem Jahr 2009 nahm der katholischen Kirche ihren Status als Staatsreligion, ein Überbleibsel der kolonialen Patronatsbeziehung zwischen der spanischen Krone und dem Vatikan.

Morales selbst ist Katholik. Aber er kritisiert die Institution der katholischen Kirche, die im 16. Jahrhundert die Kolonisierung Lateinamerikas durch Spanien und im 20. Jahrhundert die Falangisten-Partei unterstützte. Der Linken in Lateinamerika fiel es angesichts der vielen gläubigen Christen in der Region stets schwer, ihre politischen Ideen zu vermitteln. Antireligiöses oder gar antikatholisches Gedankengut hatte hier nie eine Chance.

Symbol der Befreiungstheologie

Im Jahr 2015 überreichte Morales Papst Franziskus ein aus Hammer und Sichel zusammengesetztes Kruzifix, eine Skulptur des spanisch-bolivianischen Priesters Luis Espinal, der im Jahr 1980 ermordet worden war. Espinal verstand sie als Symbol der Befreiungstheologie, einer progressiven Strömung des Katholizismus, die sich der Sache der Armen zuwandte und die Diktaturen in ganz Lateinamerika herausforderte. Auch Morales unterstützte diese Form der Religiosität, die in den Erfahrungen des Volkes wurzelt.

Doch der Umgang von Morales mit religiösen Fragen stieß auf Kritik von konservativen christlichen Gruppen, die ihm teils Heidentum, teils atheistischen Sozialismus vorwarfen. Die derzeit amtierende Übergangsregierung hat enge Verbindungen zu diesen Gruppen, die Morales während seiner Regierungszeit äußerst kritisch gegenüberstanden.

Die Interimspräsidentin Áñez ist zudem im Verlauf ihrer politischen Karriere mit offen anti-indigenen Äußerungen hervorgetreten. In einem Tweet aus dem Jahr 2013, der inzwischen gelöscht ist, bezeichnete sie die Aymara, die das neue Jahr mit den Ritualen ihrer Vorfahren begehen, als „satanisch“. Und nur fünf Tage vor ihrer Amtseinführung machte sie sich auf Twitter über indigene Quechua-Männer lustig, die zu ritueller Kleidung moderne Schuhe und Jeans trugen.

Seit der Machtübernahme von Áñez ist in Bolivien erneut die antiindigene Stimmung aufgeflammt, die vor Morales verbreitet war. Nach seinem Rücktritt wurden Wiphala-Flaggen heruntergerissen und verbrannt; Polizisten und Soldaten wurden dabei gefilmt, wie sie die Flagge von ihrer Uniform abtrennten.

Religiös motivierte antiindigene Gewalt

„Bolivien für Christus, Pachamama wird hier nie wieder Fuß fassen“, erklärte Protestführer Luis Fernando Camacho, ein Bündnisgenosse von Áñez, als er im Regierungspalast vor einer auf die bolivianische Flagge gebettete Bibel niederkniete. Pachamama ist die von den Indigenen verehrte Mutter Erde der Anden. Camacho wurde auch schon als der „Bolsonaro Boliviens“ bezeichnet. Zwar ist der Aktivist aus Santa Cruz Katholik, doch auch Gruppen aus der Pfingstbewegung unterstützen ihn. Diese ökumenische Unterstützung könnte sich als Camachos Trumpf erweisen, wenn er, wie angekündigt, bei den zurzeit für Mai vorgesehenen Wahlen für die Präsidentschaft kandidiert.

Viele indigene Bolivianer wissen, was Verfolgung bedeutet. Sie sehen die Richtung, die das Land unter Áñez eingeschlagen hat, mit Sorge. Auch freie Wahlen können womöglich ein Aufleben religiös motivierter antiindigener Gewalt nicht verhindern. Seit dem Rücktritt von Morales strömen seine Anhänger vom Land in die Städte und fordern ein Ende der Übergangsregierung. Das Militär hat diese Proteste wiederholt mit Gewalt niedergeschlagen, die Dutzende das Leben kostete; mehr als 700 Menschen wurden verletzt. Dabei setzt die Armee die Indigenen mit Unterstützern von Morales gleich. „Alle, die indianische Gesichtszüge haben, werden als Angehörige der Partei von Morales betrachtet, insbesondere indigene Frauen“, sagte die feministische Aktivistin Adriana Guzmán dem Nachrichtensender „Telesur“ nach der Absetzung von Morales.

Im schlimmsten Fall führt die Kombination aus rassistischem Hass und der Selbstgewissheit, im göttlichen Auftrag zu handeln, zu Massakern ähnlich wie in Guatemala unter Präsident Efraín Ríos Montt (1982-1983), der den Einsatz staatlicher Gewalt mit der Bibel rechtfertigte. Glücklicherweise scheint die Welle der Gewalt von Polizei und Militär gegen die MAS-Anhänger derzeit abzuebben, nachdem die Interimsregierung unter Druck durch ausländische Beobachter geraten ist.

Am besten wäre es, wenn die christlichen Führer, ob Laien oder Kleriker, Gewalt im Namen der Bibel und des Christentums nachdrücklich verurteilten und sich auf die Seite der Massen stellten, so wie sie es in der Blütezeit der Befreiungstheologie getan haben.

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2020: Meinungs- und Pressefreiheit
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