Erst ausbilden, dann anwerben

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Einwanderungsgesetz
Wolfgang Rattay / Reuters

Warum im Ausland suchen? Amer Kabara ist aus Syrien nach Deutschland geflüchtet und hat sich zum Alten­pfleger ausbilden lassen. Die 85-jährige Elisabeth Grohmann weiß das im September 2018 sichtlich zu schätzen.

 

Fachkräfte-Einwanderungsgesetz
Deutschland erleichtert die Rekrutierung von Arbeits­kräften im Ausland. Gut wäre, wenn auch ärmere Länder etwas davon haben. Es gibt Ideen, wie man das hinkriegt.

Das ist irgendwie schon absurd: Am selben Tag, an dem an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland griechische Grenzpolizisten mit Tränengas und Wasserwerfern Tausende Migranten und Flüchtlinge an der Einreise in die Europäische Union hindern, tritt in Deutschland ein neues Gesetz in Kraft, das die Rekrutierung von Arbeitskräften im außereuropäischen Ausland deutlich erleichtern soll. Deutsche Unternehmen suchen händeringend Fachkräfte in Branchen wie dem Bau, für Pflege- und Gesundheitsdienste und der Gastronomie. Und zugleich versperrt die EU mit Zustimmung aus Berlin den Menschen den Eintritt, die ungefragt kommen, vor Krieg und wirtschaftlicher Not fliehen oder vielleicht einfach ein besseres Leben suchen. Aber besteht zwischen beidem überhaupt ein Zusammenhang?

Seit dem 1. März gilt das neue Fachkräfte-Einwanderungsgesetz. Deutsche Arbeitgeber sollen es künftig deutlich leichter haben, Arbeitskräfte im Ausland zu rekrutieren – und zwar nicht nur Akademiker, für die bisher schon besondere Regeln galten. Das Gesetz beseitigt einige bisher geltende Hürden, etwa die Prüfung, ob es einen deutschen Bewerber oder einen EU-Bürger für die zu besetzende Stelle gibt. Das ist nun nicht mehr nötig. Zudem soll die Einreise von angeworbenen Fachkräften erleichtert werden, Visa sollen schneller erteilt werden und auch ein befristeter Aufenthalt zur Arbeitssuche soll künftig möglich sein. Voraussetzung für die Anwerbung sind Sprachkenntnisse und ein Berufsabschluss, der deutschen Standards entspricht.

„Eine Herausforderung“ für Einwanderungswillige

Die Bundesregierung hofft, dass das Gesetz den Weg frei macht für die Rekrutierung von bis zu 25.000 Fachkräften jährlich. Die werden dringend gebraucht: Laut dem Fachkräfte-Report des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) vom Februar geben 47 Prozent der befragten deutschen Unternehmen an, sie könnten derzeit offene Stellen nicht besetzen, weil sie das Personal nicht finden; in der Gastronomie und beim Bau sind es jeweils rund 60 Prozent, bei Gesundheits- und Sozialdienstleistern sogar 80 Prozent.

Autor

Tillmann Elliesen

ist Redakteur bei "welt-sichten".
Fachleute sind allerdings skeptisch, dass das neue Gesetz wesentlich dazu beitragen wird, die Lücken zu schließen. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung moniert, dass immer noch zu viel Bürokratie die Einreise erschwere, dass die Visastellen in den deutschen Botschaften jetzt schon überlastet seien und dass das Verfahren zur Anerkennung von Berufsabschlüssen zu umständlich sei. Bei der Formulierung des Gesetzes wäre „mehr Mut wünschenswert“ gewesen. Die Sprecherin für Migrationspolitik der Grünen-Bundestagsfraktion, Filiz Polat, sagt, das „Zuständigkeitswirrwarr zwischen vielen Stellen und Behörden“ stelle für Einwanderungswillige „eine Herausforderung“ dar. Das Gesetz drohe zum Flop zu werden.

Unberücksichtigt bleibt in den meisten Kommentaren zu dem Gesetz die Frage: Was bedeutet die verstärkte Rekrutierung im Ausland eigentlich für die Herkunftsländer? Das werden nach dem Willen der Bundesregierung in Zukunft häufiger als bisher sogenannte Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union sein, also Länder auch in ärmeren Weltregionen wie Lateinamerika und Asien. Es besteht das Risiko, dass aus diesen Ländern gut ausgebildete Arbeitskräfte abgeworben werben, die zu Hause dringend gebraucht werden. Mit diesem Problem des „brain drain“ – dem Abzug von Wissen aus ärmeren in reiche Länder – befasst sich die Entwicklungspolitik seit Jahrzehnten. Cornelia Füllkrug-Weitzel, die Präsidentin des Hilfswerks Brot für die Welt, hat in „welt-sichten“ unlängst davor gewarnt, die Rekrutierung von Pflegekräften auf Mexiko und Brasilien auszuweiten, wie die Bundesregierung das vorhat, ohne zu prüfen, wie sich das auf die Gesundheitsversorgung in den beiden Ländern auswirkt.

Bislang wurden 3750 Pflegekräfte vermittelt

Deutschland kann sich zugutehalten, bisher nicht viel zum „brain drain“ beigetragen zu haben. Denn außer im Bereich Pflege und Gesundheit haben deutsche Unternehmen in der Vergangenheit kaum nicht akademische Arbeitskräfte aus dem außereuropäischen Ausland angeworben, wie der DIHK in seinem aktuellen Fachkräfte-Report feststellt. Die Bundesregierung betont, dass sie auch nach Inkrafttreten des neuen Gesetzes genau das machen will, was Füllkrug-Weitzel fordert: Die Gefahr des „brain drain“ soll bei der Wahl potenzieller Rekrutierungsländer „explizit berücksichtigt“ werden, heißt es in der Strategie zur Fachkräftegewinnung des Bundeswirtschaftsministeriums vom Dezember 2019. Die Bundesregierung wolle eine „faire Migration“, das Auswärtige Amt und das Entwicklungsministerium würden bei der Auswahl der Herkunftsländer „eng eingebunden“.

Ein Verfahren zur Rekrutierung von Pflegefachkräften, das auch von Entwicklungsfachleuten gute Noten bekommt, nennt sich „Triple Win“. Dabei kooperiert die Bundesagentur für Arbeit (BA) mit der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), um für deutsche Arbeitgeber Pflegerinnen und Pfleger aus Serbien, Bosnien und Herzegowina, Tunesien und von den Philippinen anzuwerben. In diesen vier Ländern bestehe ein Überangebot an Fachkräften und die Regierungen seien an der Migration überzähliger Kräfte interessiert, heißt es in der Selbstdarstellung des Projekts. Die GIZ kümmert sich um die Vorbereitung der ausreisewilligen Frauen und Männer, etwa um Sprachkurse, und hilft ihnen bei der Integration in Deutschland; die BA vermittelt sie an die Arbeitgeber. Ein dreifacher Gewinn also: für deutsche Pflegedienstleister, für die Fachkräfte in den Herkunftsländern und für deren Regierungen.

„Triple Win“ läuft seit dem Jahr 2013. Bislang wurden 3750 Pflegekräfte vermittelt, davon 2216 von den Philippinen, 796 aus Serbien, 697 aus Bosnien und Herzegowina sowie 41 aus Tunesien. Das sind keine allzu hohen Zahlen für einen Zeitraum von sieben Jahren. Und doch hat die serbische Regierung „Triple Win“ Mitte Februar einseitig auf Eis gelegt mit der Begründung, die Abwerbung von Fachkräften aus Serbien – nicht nur in der Pflege – gehe inzwischen zu weit. „Wir wollen, dass die Menschen hierbleiben und nicht auswandern. Und wir wollen, dass auch Serben wieder zurückkommen in ihre Heimat“, sagte der serbische Arbeitsminister Zoran Djordjević der „Süddeutschen Zeitung“.

Ist „Triple Win“ also doch nicht so entwicklungsfreundlich? Nicht das Projekt sei das Problem, heißt es aus der GIZ, sondern die Anwerbung von Pflegekräften durch private Vermittler. Davon gibt es etliche in Serbien, vor allem seit dem Inkrafttreten der sogenannten Westbalkanregel vor vier Jahren: Seitdem können Menschen aus Serbien, Bosnien und Herzegowina, dem Kosovo, Mazedonien, Albanien und Montenegro ungehindert nach Deutschland einreisen, wenn sie ein Jobangebot haben und die Bundesagentur für Arbeit zugestimmt hat. So haben allein im Jahr 2018 mehr als 2100 Pflegefachkräfte aus Serbien in Deutschland die Anerkennung ihres Berufsabschlusses beantragt. Gut 1400 Anträge wurden positiv beschieden, teilweise mit der Auflage, sich zusätzlich zu qualifizieren; nur zwölf Anträge wurden abgelehnt, über den Rest muss noch entschieden werden. Im Vergleich zu diesen Zahlen sind die knapp 800 Vermittlungen über „Triple Win“ seit dem Jahr 2013 tatsächlich nicht der Rede wert.

Die Rekrutierung von Arbeitskräften in Drittstaaten durch private Agenturen wird mit dem neuen Einwanderungsgesetz vermutlich zusätzlichen Schub kriegen, sagen Fachleute wie Christoph Heuer vom Kompetenzzentrum Fachkräftesicherung beim Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Umso wichtiger ist es, dass die Politik das Geschäft der Vermittler reguliert – auch in den Herkunftsländern. Die Regierung der Philippinen hat das erkannt: Um einem Wildwuchs privater Rekrutierer vorzubeugen, müssen diese sich dort seit dem Jahr 2016 an die Kriterien und Verfahren von „Triple Win“ halten.

Ausbildungspartnerschaften zwischen Herkunfts- und Zielländern

In die Königsklasse der entwicklungsfördernden Fachkräfterekrutierung gehören für Fachleute Ausbildungspartnerschaften zwischen Herkunfts- und Zielländern. Dabei werden nicht einfach bereits qualifizierte Arbeitskräfte angeworben, sondern mit finanzieller Unterstützung aus dem Zielland Interessenten in den Herkunftsländern so ausgebildet, dass sie für eine Tätigkeit im Ausland qualifiziert sind. Der Clou: Gleichzeitig werden Frauen und Männer ausgebildet, die nicht auswandern, sondern zuhause bleiben und arbeiten wollen.

Für solche Partnerschaften wirbt auch der vor anderthalb Jahren verabschiedete Globale Migrationspakt der Vereinten Nationen. Bislang gibt es allerdings nur wenige Pilotprojekte, etwa zwischen Belgien und Marokko im IT-Bereich, zwischen Australien und einigen Inselstaaten im Pazifik für die Gastronomie und zwischen Deutschland und dem Kosovo im Bausektor. Im Januar ist ein weiteres dreijähriges Pilotvorhaben hinzugekommen: Im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums soll die GIZ in Mexiko und auf den Philippinen mit ihren dortigen Partnern eine in Deutschland anerkennungsfähige Ausbildung für Pflegekräfte aufbauen. Einige sollen dann in Deutschland Arbeit finden, während andere zu Hause bleiben.

Migrationsexperten wie Michael Clemens vom Center for Global Development in Washington sind voll des Lobes für solche Partnerschaften. Clemens plädiert aber dafür, dass Deutschland sie künftig mit Staaten in Afrika eingeht. Von dort ziehen schließlich heute schon viele junge Männer und Frauen auf der Suche nach besseren Perspektiven für sich und ihre Familien Richtung Europa, verächtlich Wirtschafts- oder Armutsflüchtlinge genannt. Und die Migration aus den Ländern südlich der Sahara wird angesichts hoher Geburtenraten und schlechter Jobaussichten in Zukunft noch zunehmen.

Was zur Eingangsfrage zurückführt: Lässt sich der Fachkräftemangel in Deutschland nicht mit den Migranten und Flüchtlingen lindern, die ohnehin kommen – auch wenn viele nicht schon für die gesuchten Berufe ausgebildet sind? Die OECD hat dazu in den vergangenen Jahren einige ländervergleichende Studien vorgelegt, in denen Deutschland durchaus ordentlich abschneidet. Demnach ist die duale Berufsausbildung eine gute Grundlage, Migranten in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren; Deutschland habe spätestens seit dem Jahr 2017 einige Weichen gestellt, um diese Aufgabe systematisch anzugehen, urteilt die OECD. Als größtes Problem nennen Arbeitgeber laut der OECD den Mangel an Sprachkenntnissen bei zugewanderten Auszubildenden und Arbeitskräften. Wichtig seien deshalb berufsbegleitende Sprachkurse.

Ein weiterer Punkt, der aus Arbeitgebersicht dringend verbessert werden muss, betrifft die Rechtssicherheit für Migranten. Unternehmen brauchen die Gewissheit, dass die Männer und Frauen, in die sie möglicherweise Zeit und Geld investiert haben und die sie jetzt brauchen, nicht bei nächster Gelegenheit von der Polizei abgeholt und in den Flieger nach Afghanistan gesetzt werden.

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