Der steinige Weg – oder wie Ricardo zu Miluska wurde

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Hildegard Willer

Ricardo Antonio fühlte sich schon als Kind weiblich. Doch erst als Erwachsener verwandelte er sich auch in der Öffentlichkeit in Miluska Luzquiños. 

Transgender
Transgenderpersonen werden in Peru häufig von ihren Familien verstoßen, ihre einzige Einkommensquelle ist Sexarbeit. Miluska Luzquiños ist eine von ihnen. Als Anwältin setzt sie sich für deren Rechte ein – und ist dafür ausgezeichnet worden.

Miluska war immer da, und nicht Ricardo. Das wusste ich schon als Kind.“ Miluska Luzquiños schüttelt ihre langen Haare aus dem Gesicht und lacht mit tiefer Stimme, ein herzhaftes Lachen, das all ihre Erzählungen begleitet. Als sie sechs Jahre alt war, habe sie ihrer Tante Speisefarben stibitzt, sich unter dem Tisch verkrochen und ihre Lippen damit angemalt. „Wisch deinen Mund ab, das tut ein Junge nicht“, habe die Tante gesagt. Ricardo, wie Miluska damals noch genannt wurde, gehorchte.

Heute ist Miluska 37 Jahre alt, hat ein Jurastudium abgeschlossen und 2019 zwei wichtige Auszeichnungen für ihr Engagement für die Rechte von Transgendermenschen in Peru erhalten: zuerst im März den Preis des peruanischen Justizministeriums. Mitte Dezember überreichten ihr dann der französische und der deutsche Botschafter in Lima gemeinsam den deutsch-französischen Menschenrechtspreis.

Vielen Transfrauen bleibt nur die Straße

Ihr Weg vom kleinen Ricardo bis zur internationalen Ehrung für Miluska verlief steinig – und steht stellvertretend für die Situation von Transgenderpersonen in Peru. Miluskas Mutter hatte nach der Geburt eine andere Familie gegründet und den kleinen Ricardo Antonio aufs Land zu den Großeltern gegeben. Im Alter von 17 Jahren traute sich Ricardo zum ersten Mal, in der Öffentlichkeit etwas von Miluska zu zeigen. „Für einen Diskobesuch zog ich mich erstmals ganz feminin an“, erzählt die Transfrau. In ihrer Heimatstadt Lambayeque hatte sie derweil ein Jurastudium begonnen, das sie allerdings nach dem frühen Tod ihres Großvaters abbrechen musste, weil niemand mehr das Land bestellte und kein Geld mehr da war. Wie so vielen Transgenderpersonen blieb auch Miluska nur die Straße. Vier Jahre lang arbeitete sie im benachbarten Ecuador als Prostituierte. 

Autorin

Hildegard Willer

ist freie Journalistin und lebt in Lima (Peru).
Erst als sie eines Nachts nur knapp einem Mordanschlag entging, kehrte sie dem Leben auf der Straße den Rücken und ging nach Hause zurück zu ihrer Großmutter. Dieses Mal als 100-prozentige Miluska: und zwar mit langen Haaren und in Frauenkleidung. Die Großmutter war die Erste, die akzeptierte, dass ihr Enkel nun eine Enkelin war. „Aber es war sehr hart, und bis heute sprechen mich einige Verwandte mit Ricardo an“, erinnert sich Miluska. Mit dem Geld, das sie in Ecuador als Sexarbeiterin verdient hatte, eröffnete sie ein Internetcafé und ging an die Universität zurück. 

Etwa 25.000 Transpersonen in Lima

Dort wurde sie auch zur Aktivistin. Der Globale Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria, eine von der UN gesponserte Initiative, veranstaltete einen Workshop in ihrer Heimatstadt Lambayeque. Wenige Monate später gründete Miluska Luzquiños eine Selbsthilfegruppe für Transpersonen in ihrer Heimatstadt, „Rosas y Violetas“ – Rosen und Veilchen, nannten sie sich. Sie machten Aufklärungsarbeit, verteilten Kondome, sprachen mit den Gesundheitsbehörden, damit sie Transpersonen behandelten. Allein 37 Prozent aller Transfrauen in Peru sind mit dem HI-Virus infiziert, zitiert die Anwältin eine Studie des peruanischen Gesundheitsministeriums. Dabei sind nur die Infizierten bekannt, die sich in staatlichen Krankenhäusern behandeln lassen. Die tatsächliche Zahl dürfte höher sein. 

„Ich bin privilegiert, denn ich esse dreimal am Tag und habe eine Krankenversicherung“, sagt Miluska. Für die allermeisten Transgenderpersonen in Peru sei das nicht der Fall. Denn sie leben im Verborgenen, werden von ihren Familien entweder versteckt oder verstoßen, leben in absoluter Armut und viele gehen der Prostitution nach. Sexarbeit ist für peruanische Transpersonen oft die einzige verfügbare Einkommensquelle. „Transgenderpersonen bekommen wegen ihrer Geschlechtsorientierung keine ‚normalen‘ Jobs, haben nur die Auswahl zwischen Friseurin, Dekorateurin oder eben die Sexarbeit“, sagt die 37-Jährige. 25.000 Transpersonen – die meisten von ihnen Transfrauen – soll es allein in der Hauptstadt Lima geben, das ergab eine Zählung von UN-AIDS vor vier Jahren. 

Wer sehen will, wie Transgenderpersonen – vor allem Frauen, also gebürtige Männer, die entschieden haben, eine Frau zu werden – leben, kann sie an einem Wochenende nach Mitternacht in San Juan de Lurigancho treffen. Mit mehr als einer Million Einwohnern ist San Juan de Lurigancho der bevölkerungsreichste Distrikt der Zehn-Millionen-Stadt Lima. 

Gegen Mitternacht kommen die Kunden

Gegen Mitternacht lässt das Hupen der vielen Busse etwas nach, die die Menschen von ihren Arbeitsplätzen im Zentrum Limas in die Peripherie bringen. Straßenstände schließen, die U-Bahn lässt die Gitter runter und selbst in der McDonalds-Filiale werden die letzten Gäste hinausgeschmissen. Jetzt beginnen die Transfrauen mit ihrer Arbeit. Die Straßenecken und Bezirke haben sich Transfrauen und Heteroprostituierte aufgeteilt. San Juan de Lurigancho „gehört“ den Transfrauen, wie eine von ihnen sagt. An den Straßenecken, in der Nähe von Diskotheken und billigen Stundenhotels, stehen sie in Gruppen zusammen, um sich vor Beleidigungen oder Angriffen zu schützen, und warten auf ihre Kunden. Viele „Chicas“, wie sich die Transfrauen nennen, haben sich mit Silikon oder auch mit Flugbenzin sekundäre Geschlechtsmerkmale wie Po und Busen aufspritzen lassen. Vor ihrem Schritt baumelt bei den meisten eine kleine Handtasche, denn das männliche Geschlechtsteil ist aufgrund der enganliegenden Kleidung sichtbar. Eine komplette operative Geschlechtsumwandlung können sich die wenigsten leisten. 

Als Sexarbeiterinnen können die meisten Transfrauen nicht ewig arbeiten. „Für uns beginnt das Alter schon ab 40 Jahren, wir bekommen keine Kunden mehr und finden auch sonst keinen Job“, sagt Miluska. Viele Transfrauen schnitten sich im Alter ihre langen Haare ab und kleideten sich auch wieder als Mann – nicht aus Überzeugung, sondern weil sie nur so von ihren Familien wieder aufgenommen würden. Kein staatliches Programm sorgt sich um die alternden Transprostituierten. 

Probleme in der Gesundheitsversorgung

Es ist auch Miluskas Verdienst, dass Transfrauen in Lima vielleicht einmal nicht mehr an schmuddeligen Straßenecken stehen müssen. Sie hat in der Hauptstadt ein Trans-Haus gegründet, in dem Transpersonen Hilfe finden können. In der „Casa Trans“ werden sie über ihre Rechte aufgeklärt, können einen Beruf lernen, der sie von der Straße wegbringt, und vor allem erhebt die Casa Trans auch Daten über Gewalttaten und Menschenrechtsverletzungen, denen die Transpersonen ausgesetzt sind. Allein im Jahr 2019 hat die Organisation insgesamt 262 Fälle registriert. Auch in der peruanischen Gesetzgebung existieren Transpersonen bis heute nicht als solche. Dieses Manko zeigt sich auch in der Gesundheitsversorgung. „Ein Beispiel: Wenn Transpersonen Krebs entwickeln, aufgrund ihrer schlecht durchgeführten Implantate, werden sie im Krankenhaus oft abgewimmelt“, berichtet die Anwältin. 

Dass Miluska, begleitet von einer Gruppe von anderen Transfrauen, Mitte Dezember 2019 in der französischen Botschaft ausgezeichnet wurde, ist alles andere als selbstverständlich. „Für ein so machistisch geprägtes Land wie Peru ist diese Ehrung eine echte Herausforderung“, sagt Miluska.

Die Anwältin bleibt ihren Träumen treu: In Zukunft möchte sie  ein weiteres Trans-Haus errichten. Außerdem will Miluska vor allem erreichen, dass ihr vor vier Jahren erarbeiteter Gesetzesvorschlag zur Namensänderung endlich vom peruanischen Parlament verabschiedet wird. In den Nachbarländern Chile, Argentinien und Bolivien können Transpersonen sich offiziell umbenennen lassen – nicht so im konservativen Peru. Die Aktivistin, die alle nur unter dem Namen Miluska kennen, heißt in ihrem Personalausweis bis heute Ricardo Antonio.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2020: Willkommen – oder nicht?
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