Rückkehr in ein Land ohne Hoffnung

Ezzatullah Mehrdad

Mohammad Isaa Ghulami ist 2017 nach Afghanistan zurückgekehrt, nachdem sein Asylantrag abgelehnt wurde. Heute betreibt er einen kleinen Laden in Kabul.
 

Abschiebung nach Afghanistan
Aus Europa abgeschobene Afghanen kehren in ein vom Krieg zerrüttetes Land zurück, das ihnen kaum Perspektiven bietet. Beim Aufbau eines neuen Lebens ist die afghanische Regierung keine Hilfe.

Ein britischer Kolonialbeamter in Kabul beschwerte sich im Jahr 1919, dass die Afghanen „gegenüber den Deutschen und Österreichern eine große Freundlichkeit an den Tag gelegt und sie häufig unterhalten und besucht haben“. Der Beamte bezog sich auf mehr als 120 deutsche und österreichische Gefangene, die während des Ersten Weltkriegs aus russischen Lagern entkommen waren und in Afghanistan Zuflucht gesucht hatten.

Ein Jahrhundert später, vor allem in den Jahren 2014 und 2015, hießen Deutschland und Österreich zahlreiche afghanische Flüchtlinge willkommen. Am Hindukusch verbreitete sich die Nachricht von den  offenen Grenzen, und viele Afghanen gaben ihre Ersparnisse aus und liehen sich Geld, um nach Europa zu gelangen. Die Flitterwochen hielten jedoch nicht lange an.

Der heute 27 Jahre alte Haseeb Hamidi floh 2015 wegen der bedrohlichen Sicherheitslage aus Afghanistan. Ein Jahr später erreichte Hamidi Deutschland. Insgesamt 10.000 US-Dollar, seine gesamten Ersparnisse, hatte er für die Flucht ausgegeben; auf seinem Weg musste er Gras essen, um zu überleben. Hamidi hatte gehofft, in Deutschland Asyl zu bekommen.

Umstrittene Abschiebungen

Afghanen zählen zu den größten Flüchtlingsgruppen in Deutschland. Insgesamt 162.899 afghanische Staatsangehörige haben dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge ...

Doch sein Asylantrag wurde abgelehnt. Die afghanische Regierung stimmte zu, ihn wieder aufzunehmen. Als er im April 2017 in Kabul landete, bot ihm niemand Hilfe an. Es fragte ihn auch niemand, ob er irgendwo Unterkunft finde oder ob seine Sicherheit bedroht wäre. „Ich kann in Kabul nicht frei leben“, sagt Hamidi. „Ich habe kein normales Leben. Ich verstecke und isoliere mich.“

Seit 2017 werden afghanische Flüchtlinge aus europäischen Ländern abgeschoben. In einem von ihr angemieteten Hotel hat die Internationale Organisation für Migration (IOM) in Kabul ein „Safe House“ für aus Europa abgeschobene Flüchtlinge eingerichtet. Dort können die Betroffenen zwei Wochen bleiben, ehe sie sich auf den Weg durch ein Land machen, das ihnen wenig bietet. Auf der Suche nach Hoffnung haben die meisten all ihre Ersparnisse und die besten Jahre ihres Lebens verloren. Sie sind in ein Land zurückgekehrt, in dem nach wie vor Krieg herrscht.

Die meisten Afghanen, die um 2015 herum nach Europa kamen, flohen nicht aus den von den Taliban kontrollierten Gebieten, sondern aus einem demokratischen Staat, dessen Regierung ein strategischer Partner der Nato ist. Gleichwohl flohen viele auch vor Bedrohungen durch die Taliban und den „Islamischen Staat“. Von 2001 bis 2014 stationierten die USA und die Nato-Staaten etwa eine Million Soldaten in Afghanistan, um die Taliban zu bekämpfen. Alleine im Jahr 2010 belief sich die Zahl der US-Soldaten auf 100.000. Millionen US-Dollar an Hilfsgeldern flossen ins Land, um eine Regierung zu bilden und Institutionen aufzubauen.

Nachdem die USA 2014 einen Großteil ihrer Kampftruppen abzogen, brach Afghanistans Wirtschaft zusammen. Die Arbeitslosenquote schoss in die Höhe. Das Land, in dem Arbeitsplätze durch die Kriegswirtschaft geschaffen wurden, versank in Armut. Etwa die Hälfte der insgesamt 35 Millionen Afghanen lebt in Armut. Viele, die für die Nato-Truppen gearbeitet haben, etwa als Übersetzer oder Köche, sind aufgrund der wirtschaftlichen Situation geflohen oder weil ihre Sicherheit bedroht wurde.

Die Organisation Afghanistan Human Rights and Democracy (AHRDO), eine zivilgesellschaftliche Organisation mit Sitz in Kabul, veröffentlichte im November 2019 einen Bericht über die Abschiebung afghanischer Flüchtlinge. Demzufolge hatten 39 von insgesamt 50 befragten Flüchtlingen Angst vor dem Krieg und der allgemeinen Unsicherheit in Afghanistan. Acht Prozent der Befragten gaben spezifische Bedrohungen als Fluchtgrund an und 14 Prozent verwiesen auf wirtschaftliche Gründe.

„Ich ging ohne die Zustimmung meiner Familie“

Der 35 Jahre alte Nayam Sharifi arbeitete mit den US-Truppen zusammen und belieferte sie mit Benzin. Nach deren Rückzug floh er aus Afghanistan, vor allem wegen der wirtschaftlichen Lage. Er verkaufte seine acht Tankwagen für jeweils umgerechnet 800 US-Dollar – weniger als ein Viertel des Preises, für den er sie erworben hatte. „Ich ergriff die Gelegenheit und ging ohne die Zustimmung meiner Familie“, sagt Sharifi. Bei seiner Flucht war er 30 Jahre alt und Vater von zwei kleinen Kindern.

Autor

Ezzatullah Mehrdad

ist freier Journalist und lebt in Kabul, Afghanistan.
Er schloss sich Tausenden von Afghanen an, die ihr Leben aufs Spiel setzten, um nach Europa zu gelangen. Üblicherweise ließen sich die Flüchtlinge über die westliche Grenze nach Pakistan und von dort über den Iran in die Türkei schmuggeln. Von dort ging es schließlich nach Europa. Auf diesem Weg riskierten die Flüchtlinge immer wieder ihr Leben; in einigen Fällen aßen und tranken sie tagelang nichts. Dem Bericht der Organisation AHRDO zufolge gaben 35 Befragte an, auf ihrer Reise fast gestorben zu sein. Die Hoffnung, zu überleben, hatten sie aufgegeben.

Sharifi schaffte es bis nach Österreich, fühlte sich aber nicht willkommen. „Ich war wirklich enttäuscht, dass Österreicher auf der Straße immer wieder die Richtung gewechselt haben, nur um uns zu vermeiden“, erzählt Sharifi. „Wir sind doch alle Menschen.“ Nachdem er in Österreich einen Asylantrag gestellt hatte, kehrte er aus Sorge um die Sicherheit seiner Familie in Afghanistan im Jahr 2016 wieder nach Kabul zurück.

Nach seiner Rückkehr beteiligten sich er und sein älterer Bruder an Protesten gegen die Regierung, die den Verlauf einer wichtigen Stromleitung verändert hatte. Im Mai 2016 mischten sich Selbstmordattentäter des „Islamischen Staates“ unter die Demonstranten und töteten 200 Afghanen – unter den Toten war auch Sharifis Bruder. Knapp 400 weitere Menschen wurden verletzt. „Ein Jahr lang war ich schockiert und wie betäubt“, erzählt Sharifi, der die zwei Söhne und zwei Töchter seines ermordeten Bruders ernährt. „Ich schreibe meinen letzten Willen und mein Testament jedes Jahr, für den Fall, dass ich mein Leben bei einem Selbstmordanschlag oder bei einem Angriff einer Bande verliere.“

Im Oktober 2016 unterzeichnete die Europäische Union mit der afghanischen Regierung ein Abkommen, das es ihren Mitgliedsstaaten ermöglichte, afghanische Flüchtlinge abzuschieben. Afghanistans Regierung wurde dazu verpflichtet, sie aufzunehmen. Ein durchgestochener Vermerk zu den Verhandlungen legt nahe, dass die EU gewarnt hatte, sie werde Afghanistan die Hilfe entziehen, sollte die Regierung nicht kooperieren. Auf der Grundlage dieses Abkommens begannen die europäischen Mitgliedsstaaten, in großer Zahl Flüchtlinge abzuschieben, ohne die Lage in Afghanistan zu berücksichtigen, erklärt Basir Ahang, ein unabhängiger Menschenrechtsaktivist in Italien.

Beamte der Europäischen Union tragen kugelsichere Westen

Deutschland setzte die Abschiebungen nach Afghanistan nach einem Bombenanschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul im Mai 2017 vorübergehend aus. Bei dem Terrorangriff wurden 150 afghanische Zivilisten getötet, und die deutsche Regierung sah sich gezwungen, ihre 40 Diplomaten aus Afghanistan zu evakuieren. In Kabul tragen Beamte der Europäischen Union kugelsichere Westen, wenn sie sich mit hochrangigen afghanischen Amtskollegen treffen.

Einem Sprecher des afghanischen Ministeriums für Flüchtlinge und Rückkehr zufolge sind seit 2015 lediglich 950 Afghanen zur Rückkehr aus Europa gezwungen worden. Andere seien freiwillig in die Heimat zurückgegangen – freilich nachdem ihre Asylanträge abgelehnt wurden. Afghanen die ins Ausland gehen, wirft er vor, sie hätten mit dem Geld für die lange Reise nach Europa stattdessen einen kleinen Betrieb gründen können. „Wir haben für die afghanischen Flüchtlinge im Ausland getan, was wir konnten“, erklärte er. In Afghanistan gebe es zwar kein Programm, um sie zu unterstützen, aber ein Informationszentrum, das ihnen helfe, ihr Leben zu bewältigen.

Der Asylantrag des 26-jährigen Mohammad Isaa Ghulami wurde zwei Mal in Norwegen abgelehnt. Im Jahr 2017 kehrte er freiwillig zurück – mit der Hoffnung, dass er Unterstützung bei der Jobsuche erhalte. Die afghanischen Behörden hätten ihm Land sowie Geld in Aussicht gestellt, damit er in Kabul ein eigenes Geschäft betreiben kann, sagt Ghulami. Als er in der Hauptstadt ankam, hätten die Migrationsbeamten Witze über ihn gemacht.

Schließlich wandte er sich an die IOM, die freiwillige Rückkehrer aus Europa mit Stipendien in Höhe von 7000 Euro unterstützt. Mit diesem Geld kehrte Ghulami zunächst in den Malistan-Distrikt in der Provinz Ghazni zurück, seine alte Heimat. Mit dem Geld von der IOM und zusätzlich von Verwandten geliehenem Geld konnte er die Kosten für die medizinische Behandlung seiner Mutter und seiner Schwester tragen und heiraten. Seine Mutter hatte einen Herzinfarkt gehabt und seine Schwester litt an einer Magenerkrankung.

Mit seiner Familie zog er schließlich nach Kabul. Um in der in Kriminalität und Armut versinkenden Hauptstadt mit sechs Millionen Einwohnern zu überleben, musste Ghulami sich mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Seit 2017 arbeitet er hart, um seine Ehefrau und seine zwei Kinder zu ernähren. Inzwischen hat Ghulami neben seinem Haus im westlichen Teil von Kabul einen kleinen Laden eröffnet, in dem er von Stiften bis zu Shampoo alles Mögliche verkauft. Von der Regierung oder einer zivilgesellschaftlichen Organisation wurde er dabei nicht unterstützt.

Viele Rückkehrer leben in Gefahr

Für aus Europa abgeschobene Afghanen gibt es keine Organisation, die ihnen finanziell hilft, sich in Kabul ein Leben aufzubauen. Viele Rückkehrer leben zudem in Gefahr. Viele Asylanträge wurden dem AHRDO-Geschäftsführer Jawad Zawulistani zufolge mit der Begründung abgelehnt, dass zumindest Teile Afghanistans sicher genug seien, um dort zu leben. „Aber wo sollen sie hin, nachdem sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt haben, um nach Europa zu gelangen?“, fragt Zawulistani. „Sie haben nichts, um ein Leben in Afghanistan aufzubauen. Es gibt keine soziale Unterstützung, und sie stehen unter psychischem Druck.“

Auch Ghulami lebt keineswegs in einer sicheren Umgebung. Anfang März haben Kämpfer des „Islamischen Staates“ in der Nähe seines Hauses im Westen Kabuls eine Gedenkveranstaltung zum 25. Todestag von Abdul Ali Mazari, einem schiitischen Führer der Minderheit der Hazara, der auch Ghulami angehört, angegriffen. Insgesamt 32 Menschen wurden bei dem Attentat getötet, 81 weitere verletzt.

Ende Februar haben die USA und die Taliban ein Abkommen unterzeichnet, das einen schrittweisen Abzug der Truppen vorsieht und den Weg ebnen soll für Friedensverhandlungen zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung. Bereits wenige Tage nach der Unterzeichnung kam es allerdings erneut zu Kämpfen zwischen den Taliban und der afghanischen Armee.

Das Abkommen könnte der Anfang eines langen, komplizierten Friedensprozesses zwischen der afghanischen Regierung und den Taliban sein, die sich seit 18 Jahren bekämpfen. Dabei wird es auch um die Integration Tausender Taliban-Kämpfer gehen. Nachdem eine Generation von Afghanen 18 Jahre lang in Freiheit gelebt hat, könnte eine Rückkehr der Taliban sie nun dazu drängen, erneut Zuflucht zu suchen, sollten die Taliban die Rechte von Frauen und Minderheiten nicht anerkennen.

„Der Friedensprozess wird in hohem Maße von Eliten angetrieben und läuft ohne die Teilnahme gewöhnlicher Afghanen ab“, erklärt Zawulistani. „Es gibt hier nichts, was für die aus Europa Abgeschobenen attraktiv ist. Im Ausland wurden sie abgelehnt und in Afghanistan warten Nöte auf sie. Die Gefahr besteht, das sie von islamistischen Gruppen rekrutiert werden.“

Fast 17.000 Afghanen haben im vergangenen Jahr nach Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex die Ägäis überquert, um an die Küsten der Europäischen Union zu gelangen. „Sollte ich auch nur die geringste Chance haben, würde ich wieder ins Ausland gehen“, sagt der 27-jährige Hamidi, der inzwischen Abendunterricht in Medizin an einer privaten Universität nimmt. „Ich kann nicht Tag für Tag in Gefahr leben. Viel lieber riskiere ich mein Leben auf dem Weg, als mit der ständigen Furcht zu leben.“

Aus dem Englischen von Bernd Stößel.

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erschienen in Ausgabe 4 / 2020: Willkommen – oder nicht?
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