Mit dem Militär gegen das Virus

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Rau Sifuentes/ Getty Images

In Peru ist das Militär in der Corona-­Bekämpfung ganz vorne dabei: Soldaten eskortieren im Juli in der Hauptstadt Lima zwei Ärzte, die Anwohner auf das Virus testen.
 

Lateinamerika
In vielen lateinamerikanischen Ländern ist die Armee viel besser ausgestattet und organisiert als andere staatliche Institutionen. Im Kampf gegen das Coronavirus greifen autoritäre Präsidenten deshalb gern auf die Streitkräfte zurück – und wecken Erinnerungen an eine dunkle Vergangenheit.

Ende Mai 2020 wurde Lateinamerika weltweit zum Epizentrum der Coronavirus-Pandemie. Die Zahl der Infizierten schnellte in die Höhe, und die Regierungen der Region hatten alle Mühe, Maßnahmen zur Eindämmung zu organisieren. In dieser Lage griffen sie vielfach auf ein bewährtes Mittel zurück: Sie schickten das Militär in den Kampf gegen das Virus.

Vor allem in den am härtesten betroffenen Ländern sind die Streitkräfte zum bevorzugten Problemlöser der Politiker geworden. Sie leisten Hilfe, wo die staatlichen Stellen versagen. In Ecuador wurde die Provinz Guayas mit der stark betroffenen Hafenstadt Guayaquil unter Militärrecht gestellt. Eine Koordinierungsgruppe unter Führung der Marine übernahm die Verteilung lebenswichtiger Güter und setzte die Sicherheits- und Quarantänemaßnahmen durch. In Peru und Chile kontrollierte das Militär im Juli Seite an Seite mit der Polizei Ausgangssperren, von denen ein Drittel aller Peruaner und die Hälfte aller Chilenen betroffen waren. In Brasilien wird das Gesundheitsministerium seit Ausbruch der Pandemie mehr und mehr von Militärs geführt; etliche seiner Abteilungen, von der Logistik über die Finanzen, sind in den Händen aktiver Offiziere. Auch der Posten des Gesundheitsministers wurde übergangsweise mit einem General besetzt.

Wenn man sich erinnert, wie nachlässig die politischen Führer der Region das Problem zunächst angingen, kommt das nicht überraschend. Insbesondere die Präsidenten der beiden größten Länder der Region, Brasilien und Mexiko, die zusammen mehr als die Hälfte der 650 Millionen Menschen der Region regieren, leugneten die Notwendigkeit, Abstand zu halten, und ignorierten ausdrücklich einfache Schutzmaßnahmen wie das Tragen einer Maske in der Öffentlichkeit. Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro musste erst von einem Bundesrichter gezwungen werden, der Maskenpflicht nachzukommen. Geholfen hat es ihm nicht, Anfang Juli wurde er positiv auf das Virus getestet.

Im Gegensatz zur Untätigkeit mancher Politiker gingen die Militärs sehr entschlossen vor. Die Streitkräfte der gesamten Region sehen die Herausforderung der Corona-Pandemie als Überlebenskampf, den sie mit allen verfügbaren Mitteln auszufechten bereit sind. Brasiliens Armeechef hat die Bemühungen zur Eindämmung des Virus „die wahrscheinlich größte Mission dieser Generation“ genannt. Der peruanische General, der für den Einsatz von Reservisten zur Unterstützung der Quarantänemaßnahmen zuständig ist, erklärte, das Militär sei bereit, das Land gegen die „große Bedrohung, die uns derzeit terrorisiert“, zu verteidigen – eine Wortwahl, die an den Konflikt mit den Guerillakämpfern des „Leuchtenden Pfads“ erinnert, der mit dem Sieg der Armee im Jahr 2000 endete und 70.000 Peruaner das Leben kostete.

Zweifellos geht es nun vor allem darum, die Ausbreitung der Pandemie einzudämmen und die Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Aber werden die Politiker die Militarisierung auch wieder zurücknehmen, wenn die Seuche einmal vorüber ist – und werden sie es überhaupt können?

Lateinamerikanische Zivilregierungen haben in Krisenzeiten schon seit jeher auf die Streitkräfte zurückgegriffen. Sie taten dies während der Weltwirtschaftskrise in den 1930er Jahren und in den 1960ern, als die Revolution in Kuba die Spannungen des Kalten Krieges auf den Subkontinent brachte. In den 1970ern beherrschten Militärdiktaturen dann die politische Landschaft Südamerikas. Meist gelangten sie durch einen Staatsstreich an die Macht, doch fast immer wurden sie von der politischen Elite, der Wirtschaft und auch der breiteren Bevölkerung unterstützt. Oft gelang es den Generälen, klassenübergreifende Allianzen zu schmieden, an denen die an Partikularinteressen ausgerichteten politischen Parteien gescheitert waren.

Doch unter der Herrschaft der Militärs wurde Lateinamerika in den 1970ern dann zu einem Alptraum aus staatlicher Unterdrückung, Willkür und politischer Misswirtschaft. Auch wo die Generäle wirtschaftliche Erfolge verzeichnen konnten wie in Brasilien in den späten 1960er Jahren, geschah dies vor dem Hintergrund willkürlicher Verhaftungen, Folter, politischer Morde und Entführungen. Zahllose Menschen wurden ins Exil gezwungen, und in Guatemala kam es im Verlauf eines langjährigen Bürgerkriegs sogar zum Genozid an der indigenen Bevölkerung, dem mehr als 200.000 Menschen zum Opfer fielen. 

Die Unzulänglichkeiten dieser Regime führten schließlich dazu, dass in den 1980er Jahren zivilgesellschaftliche Gruppen und Teile der einst den Militärs treuen Eliten eine Demokratisierung erzwangen. Die lateinamerikanischen Armeen schrumpften, in der Regel wurden sie wieder unter zivile Führung gestellt. Die Streitkräfte Südamerikas engagierten sich in der Folge stark in Friedensmissionen der Vereinten Nationen und übernahmen zu Hause neue Aufgaben bei der Bewältigung von Naturkatastrophen und humanitären Krisen. So wurden die Staaten Lateinamerikas allerdings auch abhängig von der Hilfe der Militärs, wie sich nun auch in Zeiten der Pandemie zeigt.

Eine der unsichersten Regionen der Welt

Die Demokratisierung fiel mit neuen Problemen zusammen. Die neoliberale Wirtschaftspolitik der 1980er Jahre und die Erosion der staatlichen Institutionen brachten viele Menschen in Lateinamerika in wirtschaftliche Not. Hinzu kamen Gewalt und Kriminalität, vielfach im Zusammenhang mit dem Drogenhandel. Das machte Lateinamerika zu einer der unsichersten Regionen der Welt.

Die Folge war, dass in den 1990er Jahren das Militär wieder öfter zu Hilfe gerufen wurde, wenn die Politiker Härte gegenüber dem Verbrechen unter Beweis stellen wollten. Die Militarisierung der öffentlichen Sicherheit hat die Gewalt allerdings nicht eindämmen können, sondern nur zu neuen Menschenrechtsverletzungen geführt. Es ist bittere Ironie, dass dieser Fehlschlag nun die Akzeptanz autoritärer Führung bei der Bevölkerung wieder gestärkt hat.

Die vielen Misserfolge der Regierungen führten im Jahr 2019 zu einer Protestwelle auf dem Halbkontinent. In ganz Zentral- und Südamerika gingen die Bürger auf die Straße, um gegen korrupte Politiker, die rigide Sparpolitik, einen sinkenden Lebensstandard und vor allem für demokratische Reformen zu demonstrieren. Vielfach riefen die Präsidenten die Soldaten zu Hilfe, um zusammen mit den Polizisten die Straßen zu räumen. Die Corona-Krise trifft Lateinamerika also in einem Moment, in dem viele Regierungen verstärkt bereit sind, ihre Streitkräfte auch im Innern einzusetzen.

Seit März haben die Armeen Lateinamerikas mit einer beeindruckenden Zahl von Maßnahmen auf die Pandemie reagiert. Beinahe überall wurden sie mit Sicherungsaufgaben wie den verschärften Kontrollen an den ganz oder teilweise geschlossenen Grenzen und an Flughäfen und Häfen betraut. In vielen Ländern übernehmen die Streitkräfte nun auch Polizeiaufgaben, schützen Krankenhäuser, setzen Ausgangssperren durch und überwachen die Einhaltung der Maskenpflicht.

Militarisierung der öffentlichen Sicherheit

Diese Maßnahmen sorgen auf neue Weise für eine Militarisierung der öffentlichen Sicherheit. So hat Peru beispielsweise 10.000 Reservisten zur Unterstützung der Polizei einberufen, eine Maßnahme, zu der es in den gesamten zwei Jahrzehnten des Konflikts mit dem „Leuchtenden Pfad“ niemals gekommen ist. In Buenos Aires überwachte die Luftwaffe die Ausgangssperre mit Hubschraubern, obwohl den argentinischen Streitkräften der Einsatz im Innern weitgehend verboten ist.

In Chile und Uruguay transportierten Luftwaffeneinheiten Patienten zur intensivmedizinsichen Versorgung und organisierten Rückholflüge für im Ausland gestrandete Bürger. In Argentinien, Brasilien, Mexiko und Nicaragua führte der Kampfmittelräumdienst Dekontaminierungsmaßnahmen durch. In Ecuador und Peru wurden Spezialeinheiten abgestellt, um in besonders betroffenen Regionen Tote zu bergen und zu begraben. In Argentinien, Brasilien, Chile, Kolumbien und Uruguay haben vom Militär betriebene Fabriken ihre Produktion auf dringend benötigte medizinische Versorgungsgüter wie Schutzausrüstung, Desinfektionsmittel, Betten und Tragen umgestellt. In vielen Ländern wurden Militärkrankenhäuser für die Zivilbevölkerung geöffnet, um eine Überforderung wichtiger Kliniken zu vermeiden; in Corona-Hotspots wurden Lazarette eingerichtet. Militärpersonal stellt außerdem die Verteilung medizinischer Ausrüstung und von Lebensmitteln sicher.

Die Armeen denken dabei auch an ihre Zukunft. Kolumbien hat ein spezielles Covid-19-Bataillon aufgestellt, das auf Sicherheit und Desinfektion spezialisiert ist, ein Modell, das sicher anderswo in der Region kopiert werden wird. Zwar denken einige Länder wie Peru schon an die „Wiedereröffnung“, doch heißt dies keineswegs, dass die Soldaten in die Kasernen zurückbeordert werden. Sie sollen weiterhin überwachen, dass die Leute Abstand zueinander halten – ein wesentliches Element im Kampf gegen die Ausbreitung des Virus.

Soldaten sichern geschlossene Grenzen

Der Rückgriff auf das Militär hat ganz neue Probleme geschaffen. Die mit einem Aufmarsch von Soldaten verbundene Schließung von Grenzübergängen lief nicht ohne Spannungen ab. So hat zum Beispiel die bolivianische Armee Bürgern ihres eigenen Landes die Rückkehr aus Chile verweigert, was zu Zusammenstößen führte. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte zeigte sich besorgt über die Vorgänge.

Dramatischer ist die Lage an der Grenze zwischen Kolumbien und Venezuela: Vor der Corona-Krise reisten dort täglich 50.000 Venezolaner als Arbeitssuchende und Händler in das Nachbarland ein. Nun hat Kolumbien die Grenzkontrollen verschärft und Venezuela seine Streitkräfte an der Grenze verstärkt, um die Einreise zu kontrollieren und zu beschränken. Dies geschah in der Furcht, das bereits überlastete kolumbianische Gesundheitssystem des Landes könnte unter weiteren Corona-Fällen komplett zusammenbrechen. Nach einem gescheiterten Putschversuch in Venezuela, der von kolumbianischem Territorium aus geplant worden war, ist das Misstrauen zwischen beiden Ländern groß. Der Aufmarsch von Soldaten an der Grenze verschärft die Spannungen.

Beim Einsatz der Soldaten im Kampf gegen Corona manifestiert sich erneut die Schattenseite des Militärs: unverhältnismäßige Gewalt und Menschenrechtsverletzungen. Die Notstandsmaßnahmen einiger Regierungen sehen harte Strafen für Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkungen und das Abstandsgebot vor. Schon haben Sicherheitskräfte in El Salvador Tausende verhaftet, die die Auflagen zur Selbstisolierung nicht eingehalten haben. Auch in Peru wurden allein in der ersten Woche des Lockdowns über 18.000 Menschen festgenommen. Inzwischen hat die peruanische Regierung ein Gesetz verabschiedet, das Sicherheitskräfte von jeder Strafverfolgung ausnimmt, wenn sie in Erfüllung ihres Auftrags Schaden verursachen oder Menschen zu Tode kommen.

Unterdessen hat die Regierung von Chile die Urteile gegen mehr als 1300 ehemalige Offiziere wegen Menschenrechtsverbrechen während der Diktatur aufgehoben, um sie aus den Gefängnissen zu holen, die als Übertragungsherde für Corona gelten. Diese Maßnahmen haben bereits UN-Menschenrechtsbeauftragte alarmiert; sie warnen, Regierungen könnten in ihrer Reaktion auf die Pandemie grundlegende Freiheiten missachten.

Noch sieht es nicht so aus, als wollten Militärs die Gelegenheit der Pandemie zum Putsch und zur Beseitigung der Demokratie nutzen. Es ist jedoch eine Tatsache, dass in vielen lateinamerikanischen Ländern die Streitkräfte die handlungsfähigsten und am besten ausgerüsteten Organisationen sind. Durch ihren kompetenten Einsatz in der Corona-Krise werden sie an Einfluss gewinnen. 

Die Pandemie wird in den lateinamerikanischen Ländern höchstwahrscheinlich für eine längere Rezession sorgen, die den Staatsapparat finanziell noch weiter austrocknen und seine Unzulänglichkeiten verstärken wird. Da in vielen großen und kleinen Ländern der Region schon jetzt autoritär-populistische Führer regieren, ist die Sorge berechtigt, dass einige Staaten zum Ausgleich ihrer Schwäche noch weiter in Richtung Militärregierung abrutschen.

Brasilien: Wird das Militär die Macht an sich reißen?

In den am härtesten getroffenen Ländern des amerikanischen Kontinents breitet sich die Pandemie derzeit nahezu ungehindert aus. Vor diesem düsteren Hintergrund könnte man fast versucht sein, es als wohlverdiente Strafe zu betrachten, dass nun auch Brasiliens Präsident Bolsonaro positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Doch die Lage könnte noch schlimmer werden, wenn die staatlichen Behörden und die Exekutive sich weiter militarisieren. Das ist gar nicht so weit hergeholt. Schon jetzt sind 10 der 23 Kabinettsmitglieder Brasiliens Offiziere, und Bolsonaros Umgang mit der Pandemie hat zahlreiche mächtige Gouverneure mit den Streitkräften in Konflikt gebracht. Die Opposition fordert die Amtsent­hebung des Präsidenten, der keinen Konflikt mit der Legislative scheut. Bislang hat das Militär stets betont, dass „nationale Stabilität“ Vorrang habe. Dennoch erhielt Brasiliens Vizepräsident, Hamilton Mourão, ein General im Ruhestand, bereits im März von Kommandeuren des brasilianischen Heers, der Marine und der Luftwaffe die Versicherung, dass sie ihn unterstützen würden, sollte Bolsonaro des Amtes enthoben werden oder zurücktreten. 

Ob das Militär tatsächlich die Macht an sich reißt, hängt stark vom weiteren Verlauf der Pandemie ab, ebenso von der Entwicklung neuer, stark polarisierter Bürgerproteste. Brasilien war historisch schon immer ein Indikator für die weiteren Entwicklungen der Region. So kann man angesichts eines Militärs, das kühl seine Optionen abwägt, nicht einfach davon ausgehen, dass die Demokratie in Südamerika Bestand haben wird.

Auch wenn die lateinamerikanischen Demokratien ihren Kurs halten, werden Soldaten weiterhin eine Schlüsselrolle in den geschwächten Staaten spielen, ob sie nun humanitäre Hilfe leisten oder Gewalt einsetzen. Beides erhöht ihr politisches Gewicht. Ihre Aktionen – und die Untätigkeit der zivilen Organe – werden entscheidend beeinflussen, ob die Institutionen der Demokratie der Region und die Menschenrechte die Pandemie überleben können. 

Aus dem Englischen von Thomas Wollermann.

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