Es ist schon nach zwölf

Klimakrise
Wir müssen uns darauf einstellen, dass eine katastrophale Erderhitzung nicht mehr zu stoppen ist. Das ist keine bequeme Resignation, sondern macht den Kopf frei, um Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen.

Manche Sätze in der Klimadebatte sind wie Donnerschläge und hallen lange nach. „Ich will, dass ihr in Panik geratet“ von Greta Thunberg zum Beispiel. Oder: „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ von Jonathan Franzen. Der US-amerikanische Schriftsteller hat so einen Essay im Magazin „The New Yorker“ vom September 2019 betitelt. Franzen plädiert in dem Text dafür, einen weiter fortschreitenden Klimawandel mit potenziell katastrophalen Folgen als unabwendbar zu akzeptieren. Aus seiner Sicht ist es zu spät, die Erderhitzung auf 2 Grad Celsius zu begrenzen. Franzen sagt nicht, wir sollten nicht weiter versuchen, die Emissionen von Treibhausgasen zu reduzieren und den Klimawandel zu bremsen. Aber statt unsere gesamte Kraft und alle Ressourcen darauf zu verwenden, sollten wir mehr in die Anpassung an eine Welt jenseits des 2-Grad-Ziels investieren. 

Das hat Aktivisten und Klimawissenschaftler mächtig auf die Palme gebracht. Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat Franzen im „Spiegel“ Defätismus und „eine bequeme Haltung“ vorgeworfen: „Man kann sich damit gemütlich einrichten und über das sich langsam entfaltende Klimadesaster lamentieren, ohne etwas dagegen tun zu müssen.“ Ähnlich Franziska Heinisch vom Jugendrat der Generationen-Stiftung, die Franzens Essay ein „Plädoyer für die frühzeitige Resignation“ nennt. Franzen „lässt die junge Generation im Stich“, schrieb die 21-Jährige in einer wütenden Antwort in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“. Für Rahmstorf und Heinisch ist es noch nicht zu spät, eine katastrophale Erderhitzung zu stoppen, aber die Zeit drängt, es muss jetzt sehr schnell gehen. Deshalb rief Greta Thunberg Anfang 2019 EU-Politikern in Brüssel und Wirtschaftsbossen in Davos ihren denkwürdigen Satz zu: „Ich will, dass ihr in Panik geratet.“ 

Aus Panik folgt selten kluge Politik 

Mein Herz schlägt für Jonathan Franzen. Er wagt es, in eine ganz neue Richtung zu denken. Aus Panik folgt selten überlegtes Handeln oder kluge Politik, das hat auch Greta Thunberg eingeräumt. Genau das aber wird gebraucht, um mit den Folgen der Erderhitzung fertig zu werden. Der Klimawandel wird in den kommenden Jahrzehnten in vielen Weltregionen zu gravierenden Umweltveränderungen führen und den Druck auf Gesellschaften überall auf dem Globus enorm erhöhen. Luisa Neubauer von Fridays for Future hat gesagt, wer eine stabile Demokratie wolle, der brauche einen stabilen Planeten. Ich fürchte, es ist genau umgekehrt: Wer einen zunehmend instabilen Planeten hat, der braucht eine stabile Demokratie.

Das ist es, was Franzen in seinem Essay umtreibt: Was können wir tun, um unsere Gesellschaften widerstandsfähig zu machen gegen die kommenden ökologischen Verwerfungen und die Folgen für Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Der Schriftsteller wird da durchaus konkret: faire Wahlen gewährleisten; gegen extreme Vermögensungleichheit vorgehen; die „Hassmaschinen der sozialen Medien“ abschalten; für eine humane Einwanderungspolitik, für Gleichberechtigung und gegen Rassismus kämpfen; Respekt vor Gesetzen und ihre Anwendung fördern; eine freie, unabhängige Presse stärken und die Waffen aus dem Land verbannen, in dem man lebt. Alles, was zu einer gerechteren und zivileren Gesellschaft beiträgt, seien bedeutsame Klimaaktionen, schreibt Franzen: „Um mit steigenden Temperaturen zurechtzukommen, wird jedes System, ob in der Welt der Natur oder in der Welt der Menschen, so stark und gesund sein müssen, wie wir es irgend machen können.“


Dieses leidenschaftliche Plädoyer haben die meisten Kritiker von Franzen einfach ignoriert. Zugleich unterstellen sie ihm Aussagen, die er nicht gemacht hat, etwa dass wir angesichts der Klimakatastrophe die Hände in den Schoss legen könnten. Beides ist unfair. Woher kommt das? Den Grund nennt Franzen im Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Textes, der als schmales Buch bei Rowohlt erschienen ist: Er habe die „bösartig negative Reaktion“ der Klima-Community wohl geradezu herausgefordert, indem er ihr im Grunde gesagt habe, sie selbst leugne die Realität des Klimawandels, „wenn auch auf ihre Weise“. 

Franzens Argument ist, dass nach gut dreißig Jahren sogenannter internationaler Klimaschutzpolitik nichts dafür spricht, dass die Erderhitzung bei 2 Grad Celsius gestoppt wird. Technisch und naturwissenschaftlich sei das vielleicht theoretisch noch möglich, politisch aber völlig unrealistisch. Und genau diese Realität leugne, wer darauf beharrt, die Uhr zeige – erst – fünf Minuten vor zwölf.

Die Uhr lässt sich nicht mehr anhalten

Viele Klimaschützer können oder wollen sich offenbar nicht vorstellen, was eigentlich passiert, wenn es fünf nach zwölf ist – oder sogar halb eins. Greta Thunberg will, dass wir in Panik geraten, so als würde unser Haus abbrennen. Franziska Heinisch schreibt, Eltern eines todkranken Kindes würden alles versuchen, es zu retten, egal wie hoffnungslos die Lage erscheine. Franzen jedoch, schreibt Heinisch, „verlangt von ihnen, sich mit dem Tod ihres Kindes abzufinden“. 

Solche Vergleiche hinken. Ein Haus, das bis auf die Grundmauern abbrennt, ist weg; man kann nicht mehr darin wohnen. Ein Kind, das gestorben ist, lässt sich nicht mehr in den Arm nehmen. Der Klimawandel aber lässt unseren Planeten nicht verschwinden und auch nicht die Menschen, die auf ihm leben. Wer mit solchen Vergleichen argumentiert, sagt letztlich, ein Leben jenseits der 2 Grad ist nicht vorstellbar. Und wer so argumentiert, drückt sich vor der entscheidenden Frage, wie es trotz allem vorstellbar sein könnte. 

Nicht Franzen macht es sich bequem, wie seine Kritiker meinen, sondern Klimawissenschaftler und Aktivisten, die sich vor dieser Frage drücken und uns mit Verweis auf wissenschaftliche Fakten glauben machen wollen, die Uhr lasse sich noch anhalten. Das ist zugleich eine Ignoranz, die sich nur leisten kann, wer im gemäßigten Klima des globalen Nordens lebt. In vielen Regionen auf der Südhalbkugel sind extreme Umweltbedingungen auch ohne Klimawandel Alltag; zusätzlich machen sich dort die Folgen der menschengemachten Erderhitzung schon viel länger als bei uns bemerkbar. Die Menschen, die dort leben, müssen sich jeden Tag damit arrangieren und können es sich gar nicht leisten, von einem Globus diesseits der 2 Grad mit stabilem Klima zu träumen.

Weiter dafür kämpfen, das Schlimmste zu verhindern

Franzens „Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?“ zerstört eine Illusion. Der Satz ist zugleich ein Befreiungsschlag. Er macht den Kopf frei, über ein Leben auf einem drei oder sogar vier Grad heißeren Planeten nachzudenken und schon heute Weichen dafür zu stellen. Es sei richtig und gut, weiter dafür zu kämpfen, das Schlimmste zu verhindern, schreibt Franzen. Genauso wichtig sei es aber, kleinere, aussichtsreichere Schlachten zu schlagen: „Tun wir weiter das Richtige für den Planeten, ja, aber versuchen wir auch zu retten, was uns ganz speziell am Herzen liegt – eine Gemeinschaft, eine Institution, ein Stück Natur, eine bedrohte Tierart – , und schöpfen wir Kraft aus unseren kleinen Erfolgen.“

Wenn wir uns auf diese Weise auf ein Leben auf einem erhitzten Planeten vorbereiten, könnte das verhindern helfen, dass dieses Leben zum permanenten Ausnahmezustand wird.

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Gut gemacht, Herr Elliesen! Ein ausgewogener und nachdenklicher Beitrag zur Frage, ob Panik wirklich der richtige Ratgeber ist für globale Weichenstellungen. Ich rufe den panikgetriebenen Politikern und Entscheidern im Namen meiner Kinder und Kindeskinder zu: wie könnt Ihr es wagen, Abermilliarden für Maßnahmen und Weichenstellungen aus dem Ärmel zu schütteln, die der Wirtschaftskraft kommender Generationen fehlen werden, nur um einem willkürlich politisch festgelegten Popanz von 2 Grad hinterherzuhecheln? Weil bei 2,2 Grad leider die Welt untergeht? Hier wäre die Grafik zu kritisieren, die mit ihrem Alarmismus so gar nicht zum nüchternen Text passt. Daß sie aus dem Klima-Revolverblatt Guardian stammt, ist bedauerlich genug, und tatsächlich kann einem nur Angst und Bange werden, wenn man sie sich zu Gemüte führt. Für mich ist das Weltuntergangs-Porno. Schade.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2020: Auf die Heißzeit vorbereiten
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