Weg vom Stress in Chinas Städten

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Denise Hruby
Tang Guanhua und seine Frau Xing Zhen bauen ihre eigenen Nahrungsmittel an.
Selbstversorgung auf dem Land
Im Einklang mit der Natur leben, ohne Konsum- und Leistungsdruck: Das ist die Idee des Selbstversorgerdorfs, das Tang Guanhua gegründet hat. Die Mitglieder seiner „Anderen Kommune“ haben ihre Jobs in der Stadt hinter sich gelassen. 

Glänzender Morgentau perlt von den Bambuszweigen, als Tang Guanhua an ihnen vorbeistreift. Auf dem lehmigen Boden hinterlässt der junge Mann, der eine weite Baumwollhose und ein Hemd trägt, sanfte Fußabdrücke. Tang knickt ein paar frisch gewachsene Zweige ab, die den einzigen Weg zu seiner kleinen Kommune wieder zu versperren drohen. „Alles war überwuchert, wir mussten das Land erst freimachen, um diese Wege anlegen zu können“, sagt Tang und führt mich weiter den Hügel hinauf.

Der Traum vom Selbstversorgerdorf in China sei vor allem von viel Arbeit bestimmt, erklärt Tang, als er mich an diesem warmen Aprilmorgen im Jahr 2019 im Nachbardorf abholt. Mit jedem Schritt wird das Geräusch der stotternden Motoren von Motorrädern und Traktoren des Nachbardorfes leiser, bis die Spuren menschlicher Zivilisation schließlich kaum noch zu hören oder zu sehen sind. Nachdem wir noch ein Stück weitergegangen sind, stoppt Tang an einer Lichtung, starrt auf die Berge, lauscht dem Vogelgezwitscher und holt tief Luft. „Das hier“, sagt er und atmet tief ein, „das ist unser Land.“

Trampelpfade, umwachsen von violetten Wildblumen und süßlichem Rhododendron, führen über die Hügel zu vereinzelten Behausungen: eine mit Schmirgelpapier beschichtete Kuppel, ein Campinganhänger, ein Holzgerüst, über das Plastikplanen gespannt sind, dazwischen Windspiele, Stromleitungen und ein Brunnen, auf den die wenigen Bewohner besonders stolz sind. Seit 2015 lebt der heute 32-jährige Tang hier, in einem abgeschiedenen Landstrich im gebirgigen Südosten Chinas, etwa zwei Stunden von der Hauptstadt der Provinz Fujian entfernt. Seine Frau, Xing Zhen, hat ihm geholfen, die Kommune zu gründen. 

Ein neues Zuhause fern der Megastädte

Bald gesellten sich Gleichgesinnte zu ihnen, viele davon junge Leute um die 30. Genauso wie Tang und Xing haben sie dem Leben in Chinas Megastädten den Rücken gekehrt. Von dem Erfolgsdruck und den gesellschaftlichen Normen, die den Alltag vieler Chinesen bestimmen, wollen sie nichts wissen. Und selbst wenn viele von ihnen immer wieder mal in die Stadt müssen, um Geld zu verdienen, ist „Another Community“, wie sie ihr Projekt nennen, ihr neues Zuhause.

Die Kommune zählt bei meinem ersten Besuch 2019 um die zwölf Mitglieder, darunter eine Kinderbuchgestalterin, ein Filmemacher und ein Softwareexperte. In Städten wie Peking oder Schanghai haben sie alle gutes Geld verdient. „Wir haben alle nach dem gleichen, ergebnisorientierten Wertesystem gelebt“, erzählt Tang, während er mich durch sein Haus führt. Von außen sieht es aus wie ein kuppelförmiges Iglu, drinnen stehen ein Bett, eine Kommode, ein alter Bürosessel und ein Eimer, der das Wasser auffängt, das bei Regenschauern durch undichte Stellen tropft.

Die Behausungen sind nicht für die Ewigkeit gebaut, denn es gibt bis heute keine offizielle Baugenehmigung.

Seit meinem Besuch vor zwei Jahren habe ich über Messenger-Dienste Kontakt zu Tang gehalten und frage ihn, wie es der Gemeinschaft heute geht: Die Abgeschiedenheit und ihr Solidaritätsgefühl hätten geholfen, die Corona-Pandemie zu überstehen, ohne dass ein Mitglied krank wurde, antwortet Tang. Alle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen.

Tang ist in Qingdao aufgewachsen, einer Metropole im Nordosten Chinas, die mehr Einwohner hat als ganz Niedersachsen. Sein Vater verdiente als Unternehmensberater viel Geld, sagt Tang. Er legte Wert darauf, dass sein Sohn selbstständig und kritisch denken lernte. Er wollte auch, dass er seinen eigenen Weg findet, statt der Masse zu folgen, und erlaubte dem rebellischen und intelligenten 15-jährigen Sohn, die Schule abzubrechen. „Er dachte, ich würde meine eigene Firma gründen und dann schon bald meine erste Million verdienen“, erzählt Tang lachend. „Aber ich habe diese Ideen komplett abgelehnt.“

Kreativ, progressiv und alternativ

Mit verschränkten Beinen sitzt er auf einer dünnen Strohmatte in seiner zweiten Unterkunft in der Kommune, einem Wohnwagenanhänger, in dem er Werkzeuge aufbewahrt, und spielt auf einer akustischen Gitarre. Als junger Schulabbrecher verdiente er seinen Unterhalt als selbstständiger Grafiker und freundete sich mit den jungen Kreativen der Metropole an. Es sind progressive Frauen und Männer, die nicht weniger wollen, als die Welt zu verändern. Dem rasanten wirtschaftlichen Wachstum Chinas und dem immer größer werdenden gesellschaftlichen Erfolgsdruck stehen sie kritisch gegenüber. Doch damals mangelte es an Alternativen, erinnert sich Tang.

Der Gründer des Selbst­versorgerdorfs, Tang Guanhua, im Innern seines Hauses.

Während die dramatisch steigenden Mietpreise seine Freunde in immer kleinere Wohnungen zwingen, entscheidet sich Tang zu einem radikalen Schritt: Im Jahr 2010 zieht er auf den Laoshan, einen bewaldeten Berg etwa 30 Kilometer außerhalb der Stadt, und baut sich dort eine einfache Holzhütte. Mit selbst gebrautem Essig, Sojasoße und Bier nimmt sein Selbstversorger-Experiment seinen Anfang. Immer wieder kommen ihn Freunde und Fremde aus der Stadt besuchen. Die Kunde des Einsiedlers am Berg macht sie neugierig. Manche packen mit an, helfen, Seife, Schuhe und Kleidung herzustellen, installieren Solarzellen und versuchen, Strom mit einer Windturbine zu erzeugen. 

Autorin

Denise Hruby

ist freie Journalistin in Wien und arbeitet unter anderem für die „New York Times“, „National Geographic“ und CNN. Zwischen 2015 und 2018 arbeitete sie in China, wo ihre Reportagen zahlreiche Journalismuspreise gewonnen haben.
Doch die meisten kehren nach einem Wochenende wieder zurück in die Zivilisation. „Vor allem, als ich mich noch hauptsächlich von roten Paprika ernährt habe“, sagt Tang und lacht. „Am Anfang wuchs eben noch nichts anderes und Kochtöpfe hatte ich auch keine.“ Abends blickte er trotzdem stolz und zufrieden über die bewölkten Bergspitzen. „In Qingdao hatte ich diese Gefühle eigentlich nie.“

"Die Leute sagen, ich habe die Zukunft meines Kindes ruiniert"

Während Tang zum Einsiedler wird, wird sein Vater, Tang Lin, oft von Freunden und Verwandten gescholten. Er sei schuld daran, dass aus seinem Sohn nichts Anständiges geworden sei, dass er das Leben eines verrückten Eremiten vorziehe. „Sie haben mir vorgeworfen, Tang nicht gut genug erzogen zu haben, ihn nie aufs College oder die Universität geschickt zu haben“, sagt Tang Lin. „Die Leute sagen, ich habe die Zukunft meines Kindes ruiniert. Aber ich denke, er soll nach dem streben, was ihn glücklich macht.“

Auf Laoshan aber war Tangs Glück nicht von Dauer. Je mehr die Stadt wuchs, desto interessanter wurde auch das Hinterland für Spekulanten und Baufirmen. Tang wurde vertrieben. Es wäre ohnehin Zeit gewesen, sagt er heute. Der Berg hatte ihn gelehrt, dass ein autonomes Leben nur mit der Unterstützung anderer möglich ist. Mit finanzieller Unterstützung einer Stiftung, die innovative Projekte beim Umgang mit natürlichen Ressourcen fördert, mietete er das rund 200 Hektar große Stück Land in Fujian, das für die lokalen Bauern ohnehin zu hoch und abgeschieden lag. Eigentlich sei das Ziel gewesen, bis 2020 mindestens 30 Mitglieder zu haben, aber wenn Tang über seine Nachrichtenapp heute von seiner Kommune berichtet, wertet er es bereits als Erfolg, dass sie überhaupt gewachsen ist. „Jetzt haben wir ungefähr 20 Mitglieder, darunter eine Mutter mit einem neunjährigen Kind und ein ehemaliger Chinesisch-Lehrer“, schreibt er.

Von der Wertpapier-Analytikerin zur Weberin 

Den Grundstein für so eine Selbstversorger-Kommune zu legen, sei das Schwierigste, sagt Tangs Frau Xing. Das beste Beispiel für manche Probleme sei die Kleidung, erklärt sie mir und führt mich bei meinem Besuch vor zwei Jahren in einen kleinen Zementbau, in dem ein Webstuhl steht. Schon vor Jahren habe sie Nähen gelernt, „aber wenn wir weiterhin Faden und Stoff kaufen müssen, um Hemden und Hosen zu nähen, wo bleibt dann die Unabhängigkeit?“

Auch Xing stammt aus Qingdao. Sie hat als Wertpapieranalytikerin gearbeitet, war strebsam und gerade dabei, groß Karriere zu machen, als sie Tang auf einer Kunstausstellung eines gemeinsamen Freundes traf. 2011 haben die beiden dann geheiratet. Durch das Fenster scheinen Sonnenstrahlen auf Xings selbst gebauten Webstuhl. Nach der Gründung des Selbstversorgerdorfes habe sie versucht, Baumwolle anzubauen, aber der Boden war dafür nicht geeignet und der Wasserbedarf zu hoch. Wolle von tibetanischen Yaks war zu teuer und nicht nachhaltig. Sie stöberte in Büchern und Internetforen und stieß auf Kudzu, eine schnell wachsende, robuste Kletterpflanze, die in China schon vor 5000 Jahren zu Textilien verarbeitet wurde. Die Fasern der Kudzu spinnt sie zu Fäden und färbt sie mit Indigo, erklärt sie, während sie Fäden durch den Webstuhl zieht. „Abgesehen vom Anbau des Kudzu brauche ich ungefähr zwei Wochen, um ein T-Shirt zu spinnen, zu weben und zu nähen“, sagt sie und bringt damit das Problem ihrer kleinen Kommune auf den Punkt: Um wirklich unabhängig leben zu können, brauchen sie mehr Mitglieder. Strom selbst erzeugen, Gemüse und Reis anbauen, Seife herstellen oder eben die Wasserversorgung: „Dazu braucht es viel mehr Leute“, sagt Xing. Um die 150 sollen es bis Ende 2030 sein.

Xing Zhen webt Garn aus ­Kudzu-Fasern. Ein T-Shirt so herzustellen kostet sie zwei Wochen Arbeit – plus Anbau der Fasern.

Inspiriert ist Tangs Selbstversorgerdorf von Bewegungen, denen spirituelle und naturverbundene Konzepte zugrunde liegen. Die ökumenische Taizé-Bruderschaft in Frankreich beispielsweise, aber auch das ZEGG-Ökodorf südwestlich von Berlin, wo etwa 100 Erwachsene nach einem besseren, entschleunigten Leben suchen. Der wichtigste Einfluss aber sei „The Complete Book of Self-Sufficiency“ (deutscher Titel: „Das große Buch vom Leben auf dem Lande“), in dem der Brite John Seymour unter anderem von seinen Erfahrungen mit afrikanischen Stämmen schreibt, die autark leben. Seit der Erstpublikation 1976 wurde es mehr als eine Million Mal verkauft und in über 20 Sprachen übersetzt. Auch ins Chinesische. Aus dem Buch leite sich das Motto von „Another Community“ ab, erklärt Tang, während er selbst gepflanzte Gurken und Haferbrei aus dem Supermarkt frühstückt: „Lass die natürliche Energie fließen und kehre zurück zur Natur“.

Die Ablehnung gesellschaftlicher Normen und Regeln an sich ist schon eine kleine Revolution in China, dessen ist sich Tang bewusst. Umso mehr scheint er darauf bedacht, nicht über Politik zu sprechen. Abstimmungen, bei denen die Stimmen aller Bewohnerinnen gehört und respektiert werden, bezeichnet er nicht als „demokratisch“, weil er weiß, dass er Probleme mit der Staatsführung bekommen könnte, sondern als „auf Konsens basierend“. Niemand hier will als Rebell abgestempelt werden. Das Land, auf dem sie leben, gehört noch immer dem Staat; eine offizielle Bauerlaubnis haben sie bis heute nicht bekommen. 

Wang zog es erst in die Ferne und dann in die Kommune

Es ist bereits später Nachmittag, und die Sonne steht tief über den Feldern der Kommune, als Wang Hailong einen Tee aus Kräutern aufgießt. Die meisten habe er selbst gepflückt, berichtet er stolz. Bis 2015 hat der heute 36-jährige Wang als Manager einer privaten Grundschule in Peking gearbeitet. Es war ein guter Job - Bildung wird in China hochgeschätzt und gut bezahlt. Obwohl er Familie, also Eltern und Großeltern, und Freunde hatte, zog es ihn in die Ferne. Er bereiste das tibetische Plateau und verbrachte Zeit mit Nomaden, die trotz des kargen Lebens glücklich schienen. Nach seiner Rückkehr hörte er durch Zufall von Tangs Experiment. „Ich hatte keine Ahnung, worauf ich mich da einließ“, sagt Wang und schlürft seinen Tee.

Wang Hailong macht sich Tee aus selbst gepflückten ­Kräutern. Schon in Peking hat er sich für ­Pflanzen interessiert.

Meist nächtigt er in einem Zimmer, das er von Bauern im Nachbardorf der Kommune mietet. In warmen Nächten aber schlafe er hier, auf einer Matte neben den Gemüsefeldern, für die er verantwortlich ist, geschützt von einer Plane. Als Haus würde er es nicht bezeichnen, obwohl er Tische und Stühle und einen kleinen Wasserkocher für seinen Tee hat. Aber solange Holzstecken die Plane tragen, die ihn vor Regenschauern schütze, könne er hier gut arbeiten. Zum Beispiel hat er vor kurzem ein Wasserfiltriersystem gebaut und Regenwasser gesammelt. Er habe auch versucht, eine Mauer aus Lehm zu bauen, aber nach mehreren Regenschauern sei sie auseinandergebrochen. Feste Häuser ließen sich hier kaum bauen, vor allem, weil die lokale Regierung keine Genehmigung erteile, sagt Wang. „Aber auch, weil wir keine Möglichkeit haben, Material anzuschleppen. Alles,  was wir machen, dauert sehr, sehr lange“, sagt er.

Die modische Brille erinnert noch an das frühere Leben

Heute scheinen Wangs stressiger Managementjob und die überteuerte Wohnung in Peking noch ferner als die 2000 Kilometer, die zwischen ihnen liegen - auch wenn seine modische schwarze Hornbrille und die teure Windjacke noch immer an sein früheres Leben erinnern. „In der Stadt vergleichst du dich immer mit anderen“, sagt Wang, hebt einen Spaten und sticht voller Elan in die Erde.  Regenwürmer und Engerlinge kriechen hervor. Ein Zeichen, dass der Boden gesund und fruchtbar ist, erklärt Wang und verweist auf die Landwirtschaftskurse, die er an der Universität der Provinz Fujian besucht hat. 

Für Pflanzen habe er sich schon immer interessiert, aber in seiner kleinen Wohnung in Peking hätten nur ein paar Kräutertöpfe gepasst. Jetzt pflanzt er Karotten, Kartoffeln, Bohnen und Mais. Er versucht genau zu planen, wie viel die Kommune brauchen könnte, und überlegt, welches Gemüse am besten den Winter über gelagert werden kann.

Beweisen, dass es auch anders geht

Das gemeinschaftliche Hot-Pot-Essen, für das Wangs Gemüse im kochenden Wasser gart, verrät, wie weit es „Another Community“ noch zur wirklichen Unabhängigkeit hat. Rind- und Schweinefleisch sowie Reis werden bei den Bauern des Nachbardorfes gekauft. Mit Essstäbchen fischt Tang nach einem Stückchen Schweinefleisch, das im Topf brodelt. Dass alles langsamer läuft als erhofft, stört niemanden, pflichten ihm die anderen Mitglieder bei. Langfristig wollen sie Hühner halten, für die Eier, aber auch zum Schlachten. 

Auch zwei Jahre nach meinem Besuch berichtet Tang noch von ähnlichen Problemen wie damals. Noch immer experimentiert er mit einer Höhle, die er in einen Hügel gegraben hat. Um sie zu bewohnen, ist es zu feucht, es fehlen Strom und eine Wärmequelle im Winter. Offiziell dürfen noch immer keine Häuser gebaut werden, und die meisten Mitglieder mieten Zimmer von Bauern im Nachbardorf so wie Wang. Denn auf dem Land, das sie gekauft haben, dürfen sie ja offiziell nicht wohnen. Aber der Traum ist noch immer derselbe. Das Leben hier sei schwer, sagt Tang, aber er wolle weitermachen, eine Alternative zur Norm aufzeigen. Beweisen, dass es auch anders geht. Dann erzählt er von den sechs Hühnern, die er in Laoshan hielt. Jeden Morgen fanden sie einen Weg, aus ihrem Gehege auszubrechen - nur um abends wieder zurückzukehren. Viele Tage habe er sie fasziniert beobachtet, bis er glaubte, sie verstanden zu haben: Selbst den Hühnern ging es darum, eine eigene Wahl zu haben. „Das ist wohl die Natur aller Lebewesen“, sagt er und lächelt.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2021: Leben im Dorf
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