Kampf für eine gemeinsame Zukunft

picture alliance / EPA/CHAMILA KARUNARATHNE
Gas zum Kochen ist Mangelware: In einer langen Schlange stehen Menschen in Colombo an, um eine volle Gasflasche zu kaufen.
Sri Lanka
Eine breite Protestbewegung hat in Sri Lanka den Premierminister zum Rücktritt gezwungen. Doch das ist nur ein Teilerfolg und ein Ende der wirtschaftlichen Misere ist nicht zu erkennen.

Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie "Vergessene Krisen im globalen Süden", in der wir in loser Folge die Konflikte in Ländern darstellen, die im Schatten des Krieges in der Ukraine in der medialen Berichterstattung untergehen.

Heftige Proteste der Bevölkerung haben in Sri Lanka, das in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt, die politische Lage verändert. Als die Regierung zunächst mit gewaltsamer Repression reagierte, entwickelte sich eine breite Oppositionsbewegung, die Premierminister Mahinda Rajapaksa schließlich zum Rücktritt gezwungen hat.

Ein Wendepunkt war der 9. Mai: Da griff ein gewalttätiger regierungsnaher Mob erst das Lager von Protestierenden vor dem Sitz des Premierministers an, genannt Maina Go Gama („Mahinda-geh-Dorf“, Maina steht für den Premierminister). Dann wurde das nahgelegene Protestcamp „Gota Go Gama“ attackiert (Gota-geh-Dorf mit Bezug auf Gotabaya Rajapaksa, den Staatspräsidenten und Bruder des Premiers). „Sie warfen mir dreckige Beleidigungen an den Kopf, dann entrissen sie mir meine Kutte und setzten sie in Brand“, sagt der buddhistische Mönch Handawali Sujatha, der in Gota Go Gama war. Der Mob sei tief in das Zeltlager der Demonstration vorgedrungen und habe auch Zelte für die Gesundheitsversorgung, für die Verpflegung und die Bücherei verbrannt oder zerstört. In sozialen Medien kursierten danach Bilder, die Angriffe auf Frauen und Kinder zeigten. 

Am 15. Mai hat der „aragalaya“, der Kampf, begonnen, sich von diesem Trauma zu erholen. An diesem Vollmondtag im Mai, dem heiligsten Tag für Buddhisten, malen Künstler im Protestlager buddhistische Szenen. Leute stehen Schlange für Essen und Getränke, die kostenlos ausgegeben werden. Vor dem Amtssitz des Staatspräsidenten sitzen eine Anzahl Nonnen in Tracht sowie Frauen im Schleier der Musliminnen auf Plastikstühlen und trinken Kaffee. Ein Mann mit Kappe und ein Priester im Rock unterhalten sich, während ein paar buddhistische Mönche für eine Gebetszeremonie in ein behelfsmäßiges Gebäude gehen. Ein „politisches Bewusstsein, das die Grenzen der Religions- und Volksgruppen überschreitet“, ist in der Protestbewegung entstanden und nun wieder zu spüren, bemerkt der Politikwissenschaftler Jayadeva Uyangoda.

Preise für Reis und Linsen sind dramatisch gestiegen

Autorin

Devana Senanayake

ist Journalistin in Colombo, Sri Lanka.
Ihren Ursprung haben die Proteste in der Wirtschaftskrise und in schlechter Regierungsführung. Nach Ende des Bürgerkrieges im Jahr 2009 nahm der damalige Präsident Mahinda Rajapaksa eine Reihe relativ hoch verzinster internationaler Kredite für Infrastrukturprojekte auf. In den vergangenen Jahren hatte aber die Wirtschaft des Landes mehrere Schocks zu verkraften. Dazu gehört der verfassungswidrige Coup im Herbst 2018, als der damalige Staatspräsident ohne Zustimmung des Parlaments Mahinda Rajapaksa, der 2015 als Präsident abgewählt worden war, zum Premierminister machte. 

Dann gab es am Ostersonntag 2019 eine Serie von koordinierten Selbstmord-Bombenanschlägen auf Kirchen und Hotels. Schließlich hat die Corona-Pandemie die Tourismusbranche hart getroffen. Im Jahr 2020 sank die Bonität Sri Lankas immer weiter. Die Bedienung der Schulden zu den erhöhten Zinsraten erwies sich als zu teuer und Sri Lanka verlor den Zugang zu den Kreditmärkten. Am 4. April 2022 stellte das Land erstmals in seiner Geschichte den Schuldendienst ein.

Zudem hat Mahinda Rajapaksas Bruder Gotabaya, der seit 2019 Präsident ist, eine ganze Reihe politischer Fehlentscheidungen gefällt: Er hat Steuern gekürzt, Importkontrollen verhängt und den Import von Kunstdünger verboten, um die Landwirtschaft vollständig ökologisch zu machen. Die Maßnahmen haben die Bevölkerung hart getroffen. Um Kerosin, Benzin und Gas zu kaufen, muss man lange Schlange stehen. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Reis und Linsen sind dramatisch gestiegen. Tag für Tag gibt es Stromausfälle – am 31. März dieses Jahres für 13 Stunden am Stück. Auch Medikamente und medizinische Ausrüstung sind inzwischen Mangelware. 

Protestcamps als "Mikrokosmos der gemeinschaftszentrierten Zukunft"

Vielerorts in der Hauptstadt Colombo begannen im Zuge der Krise kleinere Bürgerproteste. Sie erreichten einen Höhepunkt am 31. März 2022, als ein Protest vor dem Amtssitz des Präsidenten in Gewalttaten umschlug. Der Staat setzte Bereitschaftspolizei, Sondereinheiten und die Armee ein, um die Lage unter Kontrolle zu bekommen. Dann rief der Präsident den Ausnahmezustand aus, verfügte eine Ausgangssperre und verbot die sozialen Medien. Dennoch breiteten sich die Proteste über das ganze Land aus. Am 4. April gingen Menschen im gesamten Land auf die Straße, das hatte es nie zuvor gegeben.

In der Hauptstadt Colombo protestierten sie zuerst an Orten wie Unterführungen, Denkmälern und Straßenkreuzungen. Bald aber gipfelte das in der Kundgebung auf dem Platz „Galle Face Green“, einem beliebten Grünstreifen am Indischen Ozean, den die Protestler in „Gota Go Gama“ umbenannten. Die Demonstranten errichteten dort ein Zeltlager mit Essens- und Gesundheitsversorgung, Rechtsberatung und einer kostenfreien Bibliothek. Das Modell wurde inzwischen in anderen Städten im ganzen Land nachgeahmt, beispielsweise in Kandy und Anarudhapura. 

„Die Leute im Camp diskutieren über die Verfassung, direkte und partizipative Demokratie, den Aufbau von Gemeinschaft, soziales Bewusstsein und sogar soziale Themen wie Abtreibung. Gota Go Gama ist ein Mikrokosmos der gemeinschaftszentrierten Zukunft, es ist revolutionär“, sagt Peter D’Almeida, ein 64-jähriger Künstler und Techniker. Eine Reihe Forderungen sind in dem Camp aufgekommen – darunter, dass Gotabaya Rajapaksa abgesetzt und die ganze Familie Rajapaksa aus dem Parlament ausgeschlossen wird, aber auch ein Ende der exekutiven Befugnisse für den Präsidenten, eine Überarbeitung der Verfassung und Änderungen am politischen System. 

Niedergebrannte Zelte, blutbefleckte Plätze

Diese revolutionären Bestrebungen sollten am besagten 9. Mai ein Ende finden. Eine Reihe von Bussen fuhr an dem Tag zur Residenz des Premierministers, Temple Trees. Darin saßen – freiwillig oder gezwungenermaßen – unter anderem Beschäftigte des Gesundheitswesens und der Stadtreinigung. Sie besuchten eine Konferenz in der Residenz und griffen anschließend die Demonstranten an. 3000 Regierungsanhänger stürmten die Protestveranstaltung der rund 300 Demonstranten, und die Polizei hinderte sie trotz Appellen von Seiten der Angegriffenen nicht. „Sie beschützte die Interessen der herrschenden Klasse“, sagt Mahendran Thiruvarangan, Wissenschaftler an der Universität von Jaffna.

„Ich bin hinterher hingegangen und habe gesehen, was sie in Maina Go Gama zurückgelassen haben“, sagt Anjali Wanduragala, eine 22-jährige Studentin. „Alle Zelte waren niedergebrannt. An einigen Plätzen war Blut, weil Leute verprügelt worden waren.“ Viele Quellen bestätigen, dass die Polizei bewusst mit Tränengas und Wasserwerfern auf friedliche Demonstranten losging – so lange, bis einfache, bis dahin unbeteiligte Menschen kamen, um die Demonstranten zu verteidigen. „Die Leute kamen von außen, um uns zu helfen. Sie unterbrachen ihre Arbeit und trugen noch ihre Arbeitsmontur“, sagt die 32-jährige Zeena Ranbir, eine Freiwillige der Essensausgabe für Protestierende im „Volkszelt“. 

Zusammenstöße zwischen Regierungsanhängern und Demonstranten

In den folgenden Stunden eskalierte die Gewalt, denn die Protestierenden schlugen zurück. Normale Menschen hielten Busse an, um zu prüfen, ob darin Leute von der Regierungsseite waren. Später richteten sie dafür „zivile Checkpoints“ ein und lenkten den Verkehr entsprechend. „Die Stimmung war explosiv. Da lag so viel Spannung und Ärger in der Luft“, erinnert sich der 35-jährige Journalist Marlon Ariyashinghe. Am Beira See, ebenfalls in Colombo, hätten die Menschen Regierungsanhänger ins Wasser geworfen und staatliche Autos angezündet. 

In der Nacht versuchten Oppositionelle, in Temple Trees einzudringen, die Residenz des Premierministers, in die sich der Premier und einige Parlamentsabgeordnete zurückgezogen hatten. Einmal rammten sie das Gebäude sogar mit einem Bus. Obwohl es ihnen an einem Plan und Koordination fehlte und sie von innerhalb angegriffen wurden, machten sie weiter. Mahinda Rajapaksa musste schließlich mit seiner Familie Temple Trees verlassen und im Morgengrauen des folgenden Tages ins Lager der Marine in Trincomalee umziehen. 

Überall im Land zündeten die Menschen insgesamt 41 Häuser von Parlamentsabgeordneten an, ebenso Besitztümer derjenigen, die mit den Rajapaksas in Verbindung gestanden hatten – beispielsweise das Haus eines Musikers. In den folgenden Tagen ging die Gewalt weiter. Am 10. Mai verhängte Präsident Gotabaya Rajapaksa eine Ausgangssperre und wies das Militär an, auf alle zu schießen, die sie nicht befolgten.

Am 9. Mai hat ein Mob die Protestierenden angegriffen. Hier tragen Helfer einen Verletzten weg.

Rücktritt von Mahinda Rajapaksa

Die Proteste erreichten jedoch eines ihrer wichtigsten Ziele: Mahinda Rajapaksa trat am 9. Mai als Premierminister zurück. Außerdem beflügelten die Proteste die gesamte Oppositionsbewegung, denn das Volk hatte sie unterstützt und verteidigt. 

Doch waren die Erfolge begrenzt. Mahinda Rajapaksa ist nicht mehr Premierminister, aber sein Bruder Gotabaya weiterhin Präsident. Laut dem Wissenschaftler Mahendran Thiruvarangan ist Militarisierung ein Wesenszug der Vorhaben der Rajapaksas. Seit 2019 haben sie Militärs auf wichtige staatliche Posten gehievt und die Grenzen zwischen der zivilen und der militärischen Sphäre verwischt. „Als es bei Demonstrationen zu Gewalt kam, hat der Staat als erstes repressive Mechanismen aktiviert und demokratische Prozesse verschleppt“, sagt Thiruvarangan.

Bis Anfang Juni ist Mahinda Rajapaksa auch nicht wie gefordert festgenommen worden. Er genießt noch etliche Privilegien, darunter einen sicheren Rückzugsort am Marinestützpunkt von Trincomalee. Dagegen unterliegen friedliche Demonstranten von Gota Go Gama und Beobachter wie Vater Jeevantha Peiris einem Reiseverbot. Gegen Aktivisten im ganzen Land ist der Staat vorgegangen; so wurden der Youtuber Rathidu Senaratne (bekannt unter dem Namen Ratta) und der Gewerkschafter Pricantha Fernando inhaftiert. 

Politisches Patt

Zudem hat Präsident Gotaybaya Rajapaksa als neuen Premierminister Ranil Wickremasinghe ernannt, dessen Partei bei den letzten Wahlen im Jahr 2019 nur einen einzigen Sitz errungen hat. Andere Kandidaten wie Sajith Premadasa und Anura Kumara Dissanayake wollten sich nur zum Premierminister ernennen lassen, wenn Präsident Gotabaya Rajapaksa vorher zurücktritt. Wickremasinghe hat als einziger diese Bedingung nicht gestellt und damit den kollektiven Druck der übrigen Kandidaten auf den Präsidenten zunichtegemacht. Nun herrscht ein politisches Patt: Weder der Präsident noch der Premierminister werden vom Volk unterstützt, und die Oppositionsparteien sind nicht an der Interimsregierung beteiligt und können Forderungen des Volkes nicht umsetzen, solange es keine Neuwahlen gibt.

Wie unabhängig Wickremasinghe als Premier ist, ist ungewiss. Seit seiner Ernennung sind frühere Mitglieder von Rajapaksas Partei SLPP ins Kabinett zurückgekehrt. Am 14. Mai wollte Wickremasinghe eine Frau zur stellvertretenden Parlamentssprecherin machen, aber die SLPP, die im Parlament die Mehrheit hält, hat ihren bevorzugten Kandidaten durchgesetzt. 

Forderungen nach einem Systemwandel

Wickremasinghe unterstützt auch den 21. Verfassungszusatz, den das Justizministerium für eine Verfassungsreform ausgearbeitet hat. Einheimische Beobachter betonen, dass danach der Präsident wichtige Kontrollfunktionen behält. So könnte er Ministerien und Funktionen an sich ziehen und das Parlament gegen dessen Willen auflösen, sobald er zweieinhalb Jahre amtiert. Am 29. Mai hat Wickremasinghe zwar verkündet, in den Parlamentsausschüssen Jugendvertreter zu etablieren. Das Ziel scheint aber eher eine Kooptierung der Protestbewegung zu sein als eine wirkliche Einbindung junger Menschen und ihrer Forderungen. 

Die Protestierenden bleiben indessen in Gota Go Gama und halten trotz glühender Hitze und schwerer Stürme den Druck auf den Staat aufrecht. Angesichts von Wirtschaftskrise und politischen Stillstand führen sie den Schwung des Protests fort, wie der 24-jährige Student Chavindu erklärt: „Wir werden erst gehen, wenn wir den Systemwandel sehen, den wir fordern.“

Aus dem Englischen von Barbara Erbe. 

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erschienen in Ausgabe 7 / 2022: Das Zeug für den grünen Aufbruch
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