Wer steuert, gilt als Schleuser

Kate Stanworth
Wer es wie dieser Mann aus Afrika an die Küste Italiens schafft, ist nicht unbedingt in Sicherheit.
Flucht und Migration
Hunderte afrikanische Migranten sitzen derzeit in italienischen Gefängnissen ein. Sie sind verurteilt, Menschen mit Booten über das Mittelmeer geschleust zu haben. Ein Senegalese, der 2015 als 16-Jähriger nach Italien kam, hat diesen Albtraum durchlebt.

Als er in einem vermeintlichen Auffanglager für Geflüchtete auf Sizilien landete, wähnte sich im Spätsommer 2015 ein 16 Jahre alter Migrant aus dem Senegal in Sicherheit. Er war auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise auf der italienischen Insel angekommen und hatte die gefährliche Bootsfahrt über das Mittelmeer von Libyen nach Italien überlebt. 

Dennoch begann er sich nach zwei Tagen Sorgen zu machen, denn die Türen hinter ihm waren immer verschlossen. Tatsächlich befand sich Babacar, dessen Name zum Schutz seiner Identität geändert wurde, im Gefängnis Madonna di Fatima in Trapani, einer Hafenstadt im Westen Siziliens. Wie so viele andere hatte er den Senegal auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen. Finanzielle Not und die Geschichten von erfolgreichen Geflüchteten trieben ihn an, erzählt er mir bei einem Interview, welches die nichtstaatliche Organisation Arci Porco Rosso aus Palermo arrangiert hat. Sie setzt sich unter anderem für die Rechte von Geflüchteten ein. 

Im Gefängnis teilte er sich eine Zelle mit zwei anderen jungen Migranten aus Tunesien. Auf seine Frage, ob sie in einem Flüchtlingslager seien, antworteten sie ihm, sie seien in einem Gefängnis. „Das kann nicht sein, ich bin nach Italien gekommen und direkt im Gefängnis gelandet“, habe Babacar in diesem Moment gedacht, erinnert er sich. Er konnte das Schicksal, das ihm in Europa widerfahren war, nicht fassen. 

Wegen angeblicher Schleuserkriminalität verhaftet

Babacar wurde wegen Schleuserei angeklagt und verbrachte am Ende fast zwei Jahre im Gefängnis. Seine Schuld konnte aber nie bewiesen werden. Das ist kein Einzelfall. Derzeit sitzen Hunderte von afrikanischen Geflüchteten in italienischen Gefängnissen, weil sie Boote über das Mittelmeer gesteuert haben sollen. Laut einem Bericht der NGO Arci Porco Rosso wurden in den letzten zehn Jahren in Italien mehr als 2500 Personen wegen angeblicher Schleuserkriminalität verhaftet. Die Anwaltsgehilfin und Mitautorin des Berichts, Maria Giulia Fava, beklagt, dass Anklagen auf Basis äußerst schwacher Beweise erhoben werden, Gerichtsverhandlungen nicht öffentlich sind und dass Minderjährige in Gefängnissen für Erwachsene landen können.  

Autor

Ismail Einashe

stammt aus Somalia und berichtet als freier Journalist unter anderem aus Kenia.
Menschen, die wie Babacar wegen Schleuserei verhaftet werden, werden der Beihilfe zur illegalen Einwanderung beschuldigt, ein Verbrechen, das mit bis zu 15 Jahren Haft und Geldstrafen in Millionenhöhe geahndet werden kann. Hintergrund des harten Vorgehens der italienischen Behörden ist auch der Aktionsplan gegen die Schleusung von Migranten, den die Europäische Union erstmals 2015 aufgelegt hat. Damit sollte die Schleuserkriminalität bekämpft werden. Doch die Schleuser haben reagiert: Aus Angst vor Verhaftung fahren sie die Boote nicht mehr bis nach Europa, sondern verlassen sie auf hoher See und fahren mit anderen Booten zurück an den Ausgangspunkt. Die Geflüchteten sind dann sich selbst überlassen und müssen das Boot steuern. Wer das übernimmt, kann dann in Europa wegen „illegaler“ Migration verhaftet werden.   

Zwei Mitreisende erklärten, Babacar habe das Boot gesteuert

Als Babacars Boot in Trapani ankam, erlaubte ihm die italienische Küstenwache, von Bord zu gehen. Während er mit anderen Geflüchteten auf einen Bus wartete, der sie in die Stadt bringen sollte, fragte ihn ein italienischer Beamter nach Namen, Alter und Staatsangehörigkeit. Weil er dachte, dass dies eine notwendige Formalität sei, beantwortete er die Fragen. 

Schließlich kamen weitere Beamte, die ihn aufforderten, ihnen in ein Gebäude zu folgen. „Sie gaben mir einen Zettel, auf dem stand, dass ich verhaftet sei, und machten ein Foto. Dann zwangen sie mich, in ein großes Auto zu steigen. Die Fahrt dauerte mehr als zwei Stunden, dann brachten sie mich in ein Büro der örtlichen Polizei“, erinnert er sich. 

Auf der Polizeiwache befragte ihn eine marokkanische Übersetzerin auf Französisch. Sie erklärte ihm, dass zwei Mitreisende ihn beschuldigt hätten, der Fahrer des Bootes gewesen zu sein. Er kannte die beiden Personen nicht und hatte auf der Fahrt nichts mit ihnen zu tun gehabt, sagte er. Babacar flehte die Übersetzerin an, ihm zu helfen, aber sie antwortete nur, dass sie nichts für ihn tun könne. 

„Warum bin ich hier? Ich bin ein Kind.“

Am nächsten Morgen fuhr die Polizei Babacar durch die hügelige Landschaft bis zu einem Gefängnis. „Ich habe viel geweint, weil ich zum ersten Mal im Gefängnis war. Und ich wusste nicht einmal, warum ich dort war.“ Im Gefängnis flehte er die Wärter an: „Warum bin ich hier? Ich bin ein Kind.“ Aber sie versicherten ihm, dass er nicht lange – vermutlich „nur“ einen Monat – hier sein würde und dass bald ein Anwalt für seinen Fall bestellt würde. 

Im Gefängnis wurden zwei Röntgenaufnahmen gemacht, um sein Alter zu bestimmen. Da die Ergebnisse nicht eindeutig waren, brachte man ihn ins Erwachsenengefängnis. Maria Giulia Fava erklärt, es sei in Italien üblich, dass die Behörden das Alter von minderjährigen Migranten wie Babacar nicht anerkennen. Insgesamt dauerte es neun Monate, bis die Gefängnisbehörden einen Anruf für Babacar bei seiner Familie im Senegal organisierten, die ihn bereits für tot gehalten hatte. Bei einem zweiten Anruf ein paar Monate später erfuhr er, dass sein Vater gestorben war. Im Gefängnis war Babacar nicht allein. Es habe viele andere minderjährige afrikanische Geflüchtete gegeben, denen ebenfalls Schleusertätigkeiten vorgeworfen wurden.

Freigelassen, aber ohne jede Hilfestellung

2015 wurde er in einem ersten Verfahren der Schleuserei für schuldig befunden, obwohl außer den Aussagen der beiden Mitpassagiere keine Beweise vorlagen. Ungeachtet seiner Minderjährigkeit wurde er als Erwachsener verurteilt. Sofort legte sein Anwalt Berufung gegen das Urteil ein. Doch das Verfahren zog sich in die Länge, und erst im Frühjahr 2017 gelang es dem Anwalt, eine Gerichtsverhandlung in Palermo, der Hauptstadt Siziliens, zu erreichen. Als Babacar dann den Gerichtssaal betrat, lehnte der Richter seinen Fall sofort ab und verwies ihn an das Gericht für Minderjährige in Palermo. 

Er wurde ins Gefängnis in Trapani zurückgebracht. Ein paar Tage später forderte ihn ein Wärter auf, seine Sachen zu packen, da er als Minderjähriger entlassen werde. „Sie brachten mich zur Tür und schlossen sie hinter mir“, erinnert er sich. Aber Babacar hatte keine Ahnung, was er tun sollte: „Ich stand da mit einer Plastiktüte voll mit meiner Kleidung. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte.“ Er blieb vor der Tür sitzen. Dann klingelte er und fragte die Wachen, wohin er gehen könne. Sie sagten ihm, er solle in ein Aufnahmezentrum für Geflüchtete gehen und andere afrikanische Migranten suchen, die ihm den dorthin Weg erklären könnten, erzählt er. 

Im juristischen Schwebezustand

In der ersten Nacht schlief Babacar am Meer. Am nächsten Morgen streifte er durch die Straßen, bis er auf der Piazza Vittoria in Trapani ankam. Dort rieten ihm einige Senegalesen, ins Flüchtlingslager nach Volpita zu gehen. 

Nach einiger Zeit in diesem Lager arbeitete er als Olivenpflücker im Süden Siziliens. Mittlerweile lebt Babacar in Cefalu, einem Touristenort in der Nähe von Palermo, wo er als Koch in einem Hotel arbeitet. Er befindet sich jedoch nach wie vor in einem juristischen Schwebezustand. Seit 2017 hatte er keine weitere Gerichtsanhörung mehr. Er wartet immer noch darauf, dass die Gerichte in Palermo eine Entscheidung in seinem Fall treffen. Mittlerweile sind seine Dokumente abgelaufen, er lebt ohne Papiere. Diese Erfahrung ist für ihn traumatisierend. Er hat das Gefühl, dass er nichts falsch gemacht hat. Er möchte einfach nur, dass dieser Albtraum ein Ende hat, sagt er. 

Aus dem Englischen von Luise Sonntag.

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erschienen in Ausgabe 7 / 2022: Das Zeug für den grünen Aufbruch
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