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Machtgefälle im Forschungsprozess
Forschung in Ländern des globalen Südens
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Mexikanische Studierende in Guanajuato. Wer von ihnen mag auf eine Karriere im ­Ausland hoffen?
Mexiko
12 Millionen Mexikaner leben im Ausland. Darunter auch viele hoch Qualifizierte. Mit dem Netzwerk „Global Mx“ versucht der Staat, sie enger an die Heimat zu binden. 

Die Geschichte von Héctor de Jesus Ruiz begann wie die vieler mexikanischer Kinder. Geboren wurde er 1945 als ältester Sohn eines Viehzüchters in der Grenzstadt Piedras Negras im Bundesstaat Coahuila. Seine Mutter arbeitete als Sekretärin. Die Familie gehörte zur Mittelschicht, kam aber mit vier Kindern gerade so über die Runden. In seiner Freizeit putzte der Junge Schuhe, um sich ein Taschengeld zu verdienen. Dabei lernte er eine Methodistenmissionarin aus den USA kennen. Sie gab dem Jungen einen Job als Laufbursche, und er begann zu träumen – von einem Leben in den USA. 

Nachdem er mit 14 die Mittelstufe beendet hatte, besorgte ihm die Missionarin über ihre Kontakte zu den Rotariern ein Stipendium. Ruiz konnte dank dieser Finanzhilfe eine Privatschule in den USA bezahlen und jeden Tag die Grenze, um in Eagle Pass (Texas) die Highschool zu besuchen. Dort polierte er sein Englisch und büffelte Naturwissenschaften. Das zahlte sich aus: Sein hervorragender Abschluss drei Jahre später ebnete ihm die Aufnahme und ein Stipendium an der University of Texas in Austin. Dort studierte er Elektrotechnik, später promovierte er an der privaten Rice University in Houston, und wurde einer der erfolgreichsten Manager in den USA. Ruiz arbeitete bei Texas Instruments, bei Motorola und schließlich als Geschäftsführer von AMD, der größten Halbleiterfirma der USA. 

Ein klassischer Fall von Braindrain. Mexiko gehört zu den Ländern, in denen ausländische Firmen und Universitäten gerne auf Talentsuche gehen. 1,2 Millionen gut ausgebildete Mexikanerinnen und Mexikaner leben mittlerweile über den ganzen Erdball verstreut – Ärztinnen, Biologen, Künstler, Managerinnen. In den 1990er Jahren versuchte Mexiko, diese Abwanderung mit Regulierung einzudämmen. Studierende, die für Forschungsaufenthalte im Ausland staatliche Stipendien bekamen, mussten sich verpflichten, für die Dauer ihres Auslandsaufenthaltes im Anschluss daran in Mexiko zu lehren – sonst mussten sie ihr Stipendium zurückzahlen. Das bewirkte ein Umdenken, bei dem auch Ruiz eine Rolle spielte.

Aus der Abwanderung von Fachkräften Nutzen ziehen

2002 wurde er vom Berufsverband mit der höchsten Medaille der US-Ingenieursbranche ausgezeichnet. So wurde Mexikos damaliger Präsident Vicente Fox – selbst ein erfolgreicher Unternehmer – auf seinen Landsmann aufmerksam. Fox fragte Ruiz, wie Mexiko das Talent der Auswanderer besser nutzen könne. Denn mit 12 Millionen Expats ist das Land nach Indien das Land mit der zweitgrößten Diaspora weltweit. Im September 2003 organisierte Ruiz daraufhin ein Treffen in New York mit mehr als hundert mexikanischen Koryphäen, also den Experten ihres jeweiligen Fachgebiets, beiderseits der Grenze. Es war die Geburtsstunde von „Talento Mexico“, heute bekannt als Global Mx, einem Netzwerk, mit dem das Schwellenland Mexiko neue Wege sucht, um aus der Abwanderung von Fachkräften Nutzen zu ziehen. 

Héctor de Ruiz mit Angela Merkel auf der Computermesse CEBIT 2006. Der Geschäftsführer der größten US-amerikanischen Halbleiterfirma stammt aus Mexiko und hat Global Mx erfunden.

Einige Jahre zuvor hatte die Unternehmensberatung McKinsey in den USA einen vielbeachteten Report über den „Krieg um Talente“ publiziert, in dem sie die These aufstellte, die Wettbewerbsfähigkeit von Firmen und Staaten werde sich in Zukunft daran messen, wer besser in der Lage sei, mehr Wissen und fähige Mitarbeiter zu rekrutieren. Es ging also im Kern darum, den Braindrain umzuwandeln in Braingain. „Mexiko war darin Pionier“, sagt Sofía Orozco stolz. Sie ist Funktionärin im Außenministerium und hat das Netzwerk von Anfang an mit aufgebaut. 

„Global Mx war der erste Versuch, Synergien zwischen daheimgebliebenen und ausgewanderten Forschern zu schaffen“, bestätigt die Migrationsforscherin Camelia Tigau von der staatlichen Nationaluniversität. Die Regierung stellte Funktionäre bereit und ein kleines Büro im Außenministerium. Die Organisation der jeweiligen Expat-Gemeinden oblag den mexikanischen Konsulaten. „Das gefiel nicht allen“, sagt Tigau. „Viele Expats waren anfangs skeptisch, weil sie just wegen der Regierung oder der Politik ausgewandert waren und nichts mehr mit offiziellen Stellen zu tun haben wollten.“ Als Antwort auf die offizielle Initiative bildeten sich reine Expat-Netzwerke ohne Zutun der Regierung. Mit der Zeit verzahnten sie sich.

Attraktive staatliche Marke

Autorin

Sandra Weiss

ist Politologin und freie Journalistin in Mexiko-Stadt. Sie berichtet für deutschsprachige Zeitungen und Rundfunksender aus Lateinamerika.
Heute gibt es weltweit 71 Global Mx Gruppen in 34 Ländern. Inzwischen ist die staatliche Marke so attraktiv geworden, dass sich die meisten Expat-Gruppen, die zuvor von der Regierung unabhängig sein wollten, sich ihr angegliedert haben, mit dem Staat kooperieren und unter dieser Flagge auftreten. Manche der Ortsverbände sind sehr aktiv – wie beispielsweise der in Berlin, andere treffen sich nur sporadisch. Viele haben ihre Schwerpunkte verändert. Parallel zum Aufstieg Mexikos als Filmland in Hollywood wurden kulturelle und auch kulinarische Aspekte wichtiger in den ursprünglich eher naturwissenschaftlich und betriebswirtschaftlich dominierten Netzwerken. „Die Ausrichtung der Gruppen ist sehr unterschiedlich und hängt davon ab, wer sie leitet“, sagt Tigau. 

Edgar Santos beispielsweise machte in Süddeutschland nicht so gute Erfahrungen mit Global Mx. „Das war sehr politisiert, und der dortige Präsident versuchte vor allem, sich damit beruflich zu profilieren und daraus persönliche Vorteile zu schlagen“, erzählt der Arzt, der seit zehn Jahren in Deutschland lebt – erst in Heidelberg, dann in Oldenburg. Für Santos war das aber kein Grund, die Flinte ins Korn zu werfen. Stattdessen machte der Neurochirurg seine eigene Facebook-Gruppe auf. Heute sucht er sich jedes Jahr über die Facebook-Gruppe Doktoranden aus Mexiko, die dann eine Zeit lang in Deutschland arbeiten können. Acht waren es bislang, vier von ihnen sind anschließend nach Mexiko zurückgekehrt, vier sind in Deutschland geblieben. Außerdem gibt er einmal wöchentlich einen digitalen Kurs an der Universität von Veracruz. 

Für Funktionärin Orozco ist auch das Teil des Erfolgs. „Früher stand und fiel alles mit der Überzeugungsarbeit des jeweiligen Konsuls“, sagt sie. „Jetzt ist die Marke Global Mx bekannt und hat ein Eigenleben.“ Das Netzwerk ist klein – im Außenministerium kümmern sich weniger als zehn Beamte darum – und erfordert viel freiwilliges Engagement der Expat-Gemeinden. Das Außenministerium fungiert nur als eine Art Vermittler: Es vermittelt Projekte, Stipendien und Kooperationsgesuche zwischen Expats und an Bundesstaaten, Universitäten und Industrie- und Handelskammern, die in sogenannten „Knotenpunkten“ organisiert sind und innerhalb Mexikos den Counterpart zu den Global-Mx-Gemeinden im Ausland bilden.

Talente zirkulieren um den Globus

„Der Schlüssel zum Erfolg ist, dass alle Beteiligten davon profitieren“, sagt Orozco und nennt ein Beispiel: Der Gouverneur des Bundesstaates Hidalgo wolle die Luft-und Raumfahrtindustrie fördern und habe über Global Mx einen ehemaligen mexikanischen Mitarbeiter der Nasa für einen Vortrag eingeladen. „Für den Wissenschaftler bedeutet das Anerkennung in der Heimat, der Gouverneur spart sich teure ausländische Berater, es kommt zu Wissenstransfer, und die jungen Forscher werden motiviert durch ein Vorbild, dem sie nacheifern.“ 

Ein anderes erfolgreiches Beispiel ist Arturo Reyes-Sandoval. Er ging 2004 von Mexiko nach Oxford, machte dort im Jenner-Institut Karriere, das auch den Covid-19-Impfstoff für AstraZeneca entwickelte. Der Mediziner Reyes Sandoval forschte zu vernachlässigten Tropenkrankheiten (Zika, Chagas, Dengue) und etablierte eine enge Zusammenarbeit mit mehreren Universitäten in Mexiko und Brasilien, um Impfstoffe zu entwickeln. Seit 2021 ist er wieder in Mexiko und Rektor des Polytechnischen Institutes in Mexiko City. „Diese Beispiele zeigen, dass man eigentlich nicht von Talentflucht sprechen kann, sondern besser von einer globalen Zirkulation von Talenten“, sagt Tigau. Durch die Digitalisierung sei das noch einfacher geworden als früher, führt sie an – die Entwicklung der Covid-19-Impfstoffe in Rekordzeit über die Kontinente hinweg ist wohl eines der besten Beispiele für die gelungene Vernetzung der internationalen Wissenschaftswelt. 

Aber das ist erst der Anfang: Robotisierung und Digitalisierung ermöglichen heute schon in der Industrie und der Medizin, Operationen oder Montagen digital aus weiter Ferne zu steuern – sofern entsprechend stabile Internet-Verbindungen vorhanden sind. Global Mx hat deshalb seine Fernuniversität für mexikanische Expats geöffnet. Ursprünglich richtete sich diese an Studenten aus strukturschwachen Regionen Mexikos, die aus finanziellen Gründen keine reguläre Universität besuchen können. Nun können sich dort auch mexikanische Expats einschreiben – etwa um ihr Spanisch-Niveau zu verbessern, sich in bestimmten Bereichen fortzubilden oder in Vorbereitung auf eine Rückkehr einen mexikanischen Universitätsabschluss zu erwerben. Das Angebot reicht von Biotechnologie, über Gesundheitsmanagement bis zu Softwareentwicklung. Damit wird auch Auswanderern der zweiten oder dritten Generation ein attraktives Angebot gemacht.

Migrationspolitik als Hürde für den Wissenstransfer

Talente sind heutzutage hoch mobil und können sich dort niederlassen, wo sie die angenehmsten Rahmenbedingungen für sich und ihre Familien vorfinden, und notfalls weiterziehen. Für Staaten bringt dies neue Herausforderungen. Costa Rica, ein Land mit relativ hoher Lebensqualität, erließ beispielsweise während der Pandemie Einwanderungserleichterungen für digitale Nomaden. Mexiko hinkt da noch hinterher. Mit Global Mx können zwar eigene Landsleute eingebunden werden, doch um darüber hinaus auch ausländische Talente anzulocken, fehle es noch an vielem, sagt Tigau. Zum einen habe sich Mexiko in einen vorgelagerten Migrationspolizisten der USA verwandelt – mit entsprechend harschen Einwanderungsvorschriften und Kontrollen. „Das ist schade, denn wir erleben gerade eine neue Welle des politischen Exils“, sagt Tigau. Gerade aus Venezuela seien gut ausgebildete junge Leute nach Mexiko gekommen, deren Talent noch viel zu wenig genutzt werde. 

Zum anderen zieht es viele junge Mexikaner weiter ins Ausland. Am CEDAT, dem mexikanischen Zentrum für Hochbegabte, sind derzeit 300 Schüler eingeschrieben; die Hälfte will einer Umfrage zufolge gerne auswandern. Die Gründe sind vielfältig: Bessere Löhne, mehr Sicherheit, bessere Karriereperspektiven, eine höhere Lebensqualität. Mexikos aktuelle Wirtschafts- und Sicherheitskrise treibt viele ins Ausland. Ebenso wie die populistische Regierung, die Intellektuellen und Wissenschaftlern kritisch gegenübersteht und die Budgets für Forschung und Wissenschaft zusammengestrichen hat.

Alles in allem sei trotz Global Mx das Interesse der Politik an der Wissenschaft noch viel zu gering, findet Tonatiuh Anzures, ein in Großbritannien ausgebildeter Ökonom, der vor kurzem wieder nach Mexiko zurückgekehrt ist und ein Tech-Unternehmen berät. „Mexiko investiert gerade einmal 0,4 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in Forschung und Technologie, und auch die Beteiligung der Privatwirtschaft ist minimal, ganz anders als in den USA, China oder Südkorea.“ Global Mx sei zwar eine gute Idee, aber noch besser wäre es, die Talente erst gar nicht zu verlieren, findet er.

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erschienen in Ausgabe 9 / 2022: Fragen, messen, publizieren
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