„Israel kann mit der gegenwärtigen Situation gut leben“

Ein junger Israeli in der Nähe einer israelischen Siedlung in der Nähe des palästinensischen Dorfes Beita im Westjordanland.
REUTERS/Amir Cohen
Ein junger Israeli in der Nähe einer israelischen Siedlung in der Nähe des palästinensischen Dorfes Beita im Westjordanland.
Wahlen in Israel
Im November wird in Israel gewählt – das fünfte Mal in vier Jahren. Das Land ist gespalten wie nie. Was heißt das für den Konflikt mit den Palästinensern? Sollten sich die deutsche Politik und die Zivilgesellschaft stärker einmischen? Fragen an Mickey Gitzin vom New Israel Fund.

Mickey Gitzin ist seit 2017 Israel-Direktor des New Israel Fund (NIF) in Tel Aviv. Der NIF sammelt seit 1979 in aller Welt Spendengelder und unterstützt damit zivilgesellschaftliche Initiativen für Demokratie, Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit in Israel und für Frieden mit den Palästinensern.
Der New Israel Fund unterstützt in Israel zivilgesellschaftliche Initiativen für Demokratie, soziale Gerechtigkeit, Frieden und die Menschenrechte. Wie hat sich das Klima für solche Arbeit in Israel verändert?
Israel war eines der ersten Länder, in dem sich populistische Trends verstärkt haben. Ich meine damit das Auftreten starker Führer, die versuchen, die Mehrheitsbevölkerung gegen alle anzustacheln, die sich für Minderheiten einsetzen. Heute haben wir das in vielen Ländern, etwa den USA, Brasilien oder Ungarn. Aber in Israel ging das schon vor rund 15 Jahren los. Seitdem ist es immer schwieriger geworden, Gruppen zu unterstützen, die nicht gut gelitten sind: Das betrifft Minderheiten wie die Araber in Israel und das betrifft alle, die sich für sie einsetzen. Das betrifft außerdem den Kampf für die Rechte von Frauen oder LGBTQ.

Wie viel Rückhalt gibt es in der Gesellschaft für Ihre Arbeit?
In jüngerer Vergangenheit gab es eine antipopulistische Gegenbewegung, die im vergangenen Jahr zu einer neuen Regierung geführt hat. Diese Regierung hat Parteien aus dem gesamten politischen Spektrum in Israel zusammengeführt, die im Grunde nur ein Ziel verbunden hat: die zwölfjährige Amtszeit von Benjamin Netanjahu zu beenden. Die Bewegung, die diese neue Regierung letztlich möglich gemacht hat, hat ihre Wurzeln in Menschenrechtsorganisationen wie unserer, aber sie reicht viel weiter und tiefer in die Gesellschaft.

Die Regierung war nur ein Jahr im Amt, im Sommer ist sie gescheitert. Hat dieses eine Jahr einen Unterschied gemacht?
Die Regierung hat eine andere Stimmung gebracht. Organisationen wie unsere hatten plötzlich Ansprechpartner, es gab Offenheit, über unsere Themen zu sprechen. Aber letztlich hat sich die Lage nicht verbessert, vor allem nicht mit Blick auf die Gewalt des Militärs oder von Siedlern in den besetzten Gebieten. Das war der Widerspruch: Wir, die sich für Minderheiten und Menschenrechte engagieren, konnten besser arbeiten und haben uns sicherer gefühlt. Aber für die Leute, um die es geht, hat sich nichts verändert.

Was erwarten Sie von der Parlamentswahl im November?
Ich bin nicht so dumm und wage vorauszusagen, wie sie ausgeht. Zum einen könnte die extreme Rechte an Legitimität und Macht gewinnen., vor allem die Unterstützer der rassistischen Kahane-Bewegung. Zum anderen ist die arabische Minderheit derzeit kaum motiviert, bei den Wahlen im November ihre Stimme abzugeben. Dabei sagen Analysen, dass letztlich sie entscheidet, wer der nächste Premierminister wird. Wenn mehr als 40 Prozent von ihnen wählen, dann wird Netanjahu keine Regierung bilden können. Wenn es weniger sind, dann wird er wahrscheinlich die erforderlichen 61 Stimmen in der Knesset kriegen. Das Problem ist, dass die arabische Minderheit selbst gespalten ist: Erst gab es eine Partei, dann zwei, jetzt sind es drei Parteien. Der dritte Faktor, der entscheidend für die Wahl ist: Es gibt eine gewisse Anti-Netanjahu-Müdigkeit in Politik und Gesellschaft.

Was meinen Sie damit?
Das politische System und die Gesellschaft sind gespalten über Benjamin Netanjahu. Solange seine künftige Rolle nicht geklärt ist oder er einfach ignoriert wird, wird es sehr schwierig bleiben, eine funktionierende Regierung zu bilden, die sich wenigstens über grundlegende Fragen einig ist. Die Leute sind es langsam leid, dass das politische System über Netanjahu so aus dem Gleichgewicht geraten ist. Ich wäre nicht überrascht, wenn die Parteien in der politischen Mitte sich am Ende auf eine Regierung mit ihm einlassen, nur um zu verhindern, dass die Kahane-Anhänger in die Regierung kommen - also gewissermaßen um das System in Balance zu halten.

Zeigt das schnelle Ende der letzten Regierung, dass die Spaltungen in Israel schon zu groß sind, um sie noch politisch zu überbrücken?
Diese Regierung war ein Experiment: Die äußerste Rechte und die äußerste Linke, die die Welt völlig unterschiedlich wahrnehmen, haben sich darin zusammengerauft. Einige Leute in der Regierung hat das verändert: Sie denken heute nicht mehr so stark in Kategorien kurzfristiger politischer Konkurrenz, sondern versuchen, eine langfristigere Perspektive einzunehmen. Naftali Bennett von der Partei „Die Neue Rechte“ ist das beste Beispiel: Bennett ist auf der populistischen Welle in die Politik gekommen. Ich denke, er hat inzwischen erkannt, dass die Kämpfe in der israelischen Gesellschaft und die Spaltungen in der Politik die größte Gefahr für die Zukunft des Landes sind. Ich bin kein Fan von Bennett, aber ich habe das Gefühl, ihm ist da etwas klar geworden während seiner Zeit als Premierminister im vergangenen Jahr.

Kommen wir zum Palästina-Konflikt: Glauben Sie noch an die Zwei-Staaten-Lösung?
Ich glaube, sie ist immer noch der einzig praktikable Vorschlag derzeit. Ich glaube aber auch, dass sie immer schwieriger zu erreichen ist. Und ich glaube, dass das gar nicht die wichtigste Frage ist. Entscheidend ist, wie in unserer Region alle in Würde leben und die Menschenrechte aller geachtet werden können. Das muss das Ziel sein, nicht ein Staat, zwei Staaten oder drei Staaten. Das kann in Verhandlungen geklärt werden – wobei zu beachten ist: Wir werden nie eine multikulturelle Gesellschaft wie die USA werden. Israel ist eine nationale Demokratie, und die Palästinenser sind ebenso ein Volk mit starkem Nationalgefühl, das seine Identität behalten will. Deshalb halte ich die Zwei-Staaten-Lösung im Moment immer noch für die richtige Idee.

Was müssen Israel und die Palästinenser tun, um sie zu erreichen?
Als erstes muss Israel es überhaupt wollen. Israel kann mit der gegenwärtigen Situation gut leben: Die Autonomiebehörde der Palästinenser fegt in den besetzten Gebieten den Müll von der Straße, sorgt dafür, dass die Kinder zur Schule gehen, und geht hin und wieder sogar gegen Gewalt vor. Für Israel ist das doch eine Win-Win-Situation, auch wenn nicht klar ist, ob das längerfristig so bleibt. Als erstes müsste also die israelische Führung als nicht akzeptabel anerkennen, dass da zwei Völker leben und nicht die gleichen Rechte haben. Die Palästinenser auf der anderen Seite sind intern gespalten und es mangelt an Führung. Wir können hier ewig über Würde, Menschenrechte und Frieden reden, aber es gibt keinen palästinensischen Ansprechpartner, den die Palästinenser selbst akzeptieren.

Wie sieht die israelische Gesellschaft den Konflikt?
Die Mehrheit der Bevölkerung hat Angst vor den Palästinensern, weil sie das so beigebracht bekommen haben. Aber für sie besteht keine Eile, den Konflikt zu beenden. Die Mehrheit der Israelis war noch nie in der Westbank, sie haben gar keine Ahnung, worum es eigentlich geht. All das hat mit ihren Leben in Tel Aviv oder Netanya nichts zu tun. Alle zwei Jahre oder so besuchen sie vielleicht mal befreundete Siedler auf der anderen Seite der grünen Linie, aber dann fahren sie auf für sie reservierten Straßen. Das ist doch himmlisch.

Was ist eigentlich mit der israelischen Friedensbewegung?
Sie ist geschrumpft - und vor allem zwei Ereignisse haben das ausgelöst: Vor 22 Jahren kehrte der damalige Premierminister und Anführer des Friedenslagers Ehud Barak ohne Ergebnis von seinem Treffen mit Jassir Arafat in Camp David zurück und erklärte: Es gibt keinen Partner. Das hat der Friedensbewegung einen harten Schlag versetzt. Und die zweite Intifada kurz darauf hat sie dann praktisch gekillt. Die Haltung, wir hätten alles versucht und seien doch bereit gewesen, so weit wie möglich zu gehen, ist nach wie vor weit verbreitet in der israelischen Gesellschaft - auch wenn die Wirklichkeit etwas komplizierter ist. Zugleich schlummert in der Mehrheit der Israelis die pragmatische Sichtweise: Wenn die Palästinenser wirklich Frieden wollen, dann bin ich für die Zwei-Staaten-Lösung. Es hängt alles von der Führung ab, das hat die Vergangenheit gelehrt: Wenn eine israelische Regierung den Mut aufbringt, einen anderen Kurs zu fahren, dann folgen ihr die Israelis.

In Deutschland wird immer wieder heftig über Kritik an Israel und Antisemitismus gesprochen. Vor drei Jahren etwa hat der Bundestag die BDS-Bewegung, die für einen Boykott Israels eintritt, als antisemitisch verurteilt. Was halten Sie davon?
In Israel hat die Regierung BDS als größte Gefahr für die Zukunft des Landes dargestellt, gleich nach Iran. Die wissen natürlich, dass ein Feindbild die Leute zusammenschweißt. Meine Organisation unterstützt BDS nicht und auch keine anderen Organisationen, die das tun. Denn wir investieren in Israel – und das widerspricht der Forderung von BDS. Ich selbst komme aus einer Familie russischer Juden, die vor dem Antisemitismus nach Israel geflohen ist. Ich nehme den Kampf gegen Antisemitismus sehr, sehr ernst. Aber ich finde es gefährlich, den Begriff zur politischen Waffe zu machen und freie Diskussionen zu verbieten. Ich habe mit einigen Bundestagsabgeordneten gesprochen und weiß, dass einige sich nicht getraut haben, gegen den BDS-Beschluss zu argumentieren, weil ihnen der Preis zu hoch war, als Antisemit bezichtigt zu werden. Es gibt antisemitische Tendenzen in der BDS-Bewegung, etwa wenn von „den Juden“ gesprochen wird und sie auf gewisse Weise dargestellt werden. Aber es ist falsch, jede Kritik an Israel als antisemitisch zu verurteilen.

Aber Hilfsorganisationen in Deutschland und der EU und auch manche europäische Regierungen lassen sich so leicht doch nicht abschrecken und unterstützen palästinensische Organisationen und Initiativen, die gegen die Besatzung kämpfen.
Ja, aber mir haben Bundestagsabgeordnete gesagt, es sei leicht, den Palästinensern Geld zu überweisen, aber darüber zu reden, sei keine so gute Idee. Es geht hier um einen internationalen Konflikt, nicht um irgendein humanitäres oder entwicklungspolitisches Problem, für das ein paar Millionen Dollar gebraucht werden. Es ist nötig, sich dazu klar zu positionieren, so wie man das bei anderen Konflikten ja auch macht. Wenn eine palästinensische Organisation Geld von der Bundesregierung oder der EU will, muss sie unterschreiben, dass sie gegen einen Boykott Israels ist. Es gibt Israelis, die sind für einen Boykott ihres Landes. Ich respektiere das, es macht aber keinen Sinn für mich. Aber dass eine palästinensische Organisation der deutschen Bundesregierung bescheinigen muss, in ihrem Engagement gegen die Besatzung auf einen Boykott zu verzichten, finde ich sehr seltsam.

Sollten Hilfsorganisationen in Deutschland also deutlicher Position zugunsten der legitimen Anliegen der Palästinenser ergreifen?
Die finanzielle Unterstützung ist sehr hilfreich. Und ja, sie sollten etwas deutlicher Position beziehen. Vor allem aber sollten sie die Menschenrechts- und Friedensbewegung in Israel nicht einfach übergehen. Leider passiert das zu oft. In Israel gibt es Kampagnen gegen die Bewegung mit dem Ziel, sie zu schwächen. Und Hilfsorganisationen im Ausland sagen dann: Welchen Sinn macht es, mit denen zu kooperieren, wenn sie keinen Rückhalt in der Bevölkerung haben? Aber wir sind der Treibstoff für Wandel in Israel.

Was halten Sie von dem Vorwurf, Israel sei ein Apartheid-Staat?
Ich gehöre zu denen, die zwischen Israel innerhalb der grünen Linie und außerhalb der grünen Linie unterscheiden. Ich bin nicht der Meinung der israelischen Organisation B'Tselem und von Amnesty International, dass Israel insgesamt ein Apartheid-Staat ist. Ohne Zweifel gibt es außerhalb der grünen Linie Aspekte, die an Apartheid erinnern. Aber in Israel ist die Situation anders: Palästinenser sind unter anderem im Obersten Gericht und im Parlament vertreten. Allerdings könnte irgendwann ein Punkt erreicht werden, an dem es keinen Sinn mehr macht, die Besatzung als nur vorübergehend zu bezeichnen und einen Unterschied zu machen zwischen Israel einerseits und der Westbank andererseits. Die Gefahr ist, dass die internationale Gemeinschaft irgendwann zum Schluss kommt, es gibt hier ein Regime, das unterschiedlich über zwei Völker herrscht. Dann wird es schwierig, dem Vorwurf der Apartheid zu widersprechen.

Das Gespräch führte Tillmann Elliesen.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2022: Leben in Krisenzeiten
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