Nichts über uns ohne uns

Herausgeberkolumne
Umfassende Teilhabe von Menschen mit Behinderungen ist nur möglich, wenn man sie sichtbar macht, sie einbindet und ihre Fähigkeiten in den Blick nimmt.

Dr. Rainer Brockhaus ist Vorstand der Christoffel-Blindenmission.
Ablavi Folly nimmt das heiße Messer vom Herd und schneidet damit zielstrebig ein großes rechteckiges Stück aus einem bunt gestreiften Plastiktuch. Als unbedarfter Beobachter habe ich keine Vorstellung davon, was daraus einmal werden soll. Nachmachen könnte ich es ihr erst recht nicht. Doch Ablavi weiß genau, was sie tut. Jede Handbewegung sitzt. Mit dem heißen Messer schneidet sie noch weitere bunte Rechtecke zu und klebt sie anschließend zu einer stabilen Einkaufstasche zusammen. Diese verkauft sie später auf dem Markt in Tsévié, einer Stadt in Togo, und verdient sich so ihren Lebensunterhalt. Für Folly sind ein eigenes Einkommen und ein wirtschaftlich unabhängiges Leben keine Selbstverständlichkeit: Als Kind hatte sie Polio, das Laufen fällt ihr seitdem schwer. Als Frau mit Behinderung war sie von großen Teilen des gesellschaftlichen Lebens ausgegrenzt. Lange fehlte es ihr an Geld, um sich selbst und ihren 18-jährigen Sohn zu ernähren.

Die Professionalität und die Eleganz, mit der Ablavi Folly arbeitet, beeindrucken mich. Gemeinsam mit Sozialverband VdK-Präsidentin und CBM-Botschafterin Verena Bentele darf ich sie während einer Reise nach Togo in diesem Sommer treffen. Wir wollen uns gemeinsam ein Bild davon machen, wie die Situation von Menschen mit Behinderungen in dem westafrikanischen Land ist, welche Herausforderungen sie meistern müssen. Und wir wollen Erfahrungen austauschen, wie sie am besten umfassend am Leben teilhaben können. Dafür besuchen wir nicht nur Projekte, sondern nehmen auch an einem von der CBM organisierten Forum zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen in Togo teil. Neben uns sind Regierungsvertreter, eine Repräsentantin der deutschen Botschaft und Mitglieder von Selbstvertretungsorganisationen dabei, aber vor allem viele Menschen mit Behinderungen. Ihre Energie und ihr Gestaltungswille beeindrucken mich genauso wie Follys Fähigkeiten.

Gleichzeitig höre ich auf meiner gesamten Reise viele persönliche Geschichten von Stigmatisierung und Ausgrenzung. Menschen mit Behinderungen werden oft nicht als vollwertiger Teil der Gesellschafgesehen. Dass das geändert wird und alle die gleichen Chancen und Möglichkeiten erhalten, ist nicht nur eine moralische Verpflichtung aller Menschen, sondern ein Menschenrecht. Was müssen Regierungen und Zivilgesellschaft aber tun, um Menschen mit Behinderungen die Wahrnehmung ihrer grundlegenden Rechte zu ermöglichen? Zunächst einmal müssen wir wissen, wo und wie Menschen mit Behinderungen leben. Noch sind sie viel zu oft unsichtbar. Um das zu ändern, müssen wir systematisch Daten zur Lebenssituation von behinderten Menschen sammeln und analysieren. Mit diesen Daten lassen sich Erfolge und Misserfolge von entwicklungspolitischen Maßnahmen zudem viel besser messen.

Zur Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen gehört auch, mit ihnen statt nur über sie zu reden. Denn wer sonst als die Betroffenen selbst könnte glaubwürdiger über ihre Situation berichten und sagen, was für eine bessere Teilhabe getan werden muss? Nehmen wir uns also endlich die Forderung der Behindertenrechtsbewegung zu Herzen: Nothing about us without us – nichts über uns ohne uns. Indem wir Menschen mit Behinderungen von Anfang an in die Planung und Umsetzung von Projekten einbinden, können wir sicherstellen, ihren Bedürfnissen gerecht zu werden.

Schließlich sollten wir unseren Blick mehr auf die Fähigkeiten und Potenziale lenken, statt vor allem die Behinderung zu sehen. Wenn wir Menschen mit Behinderungen stärken und Ausgrenzung überwinden, profitiert die gesamte Gesellschaft. Deswegen darf Inklusion nicht als Nischenthema behandelt werden, sondern muss als Querschnittsthema in allen entwicklungspolitischen Vorhaben verankert werden. Jede Maßnahme muss so angelegt sein, dass sie alle erreicht.

Seitdem Ablavi ihre Fähigkeiten zeigen kann, ist sie nicht mehr auf Hilfe von anderen angewiesen. Sie kann mit ihrem Einkommen ein eigenständiges Leben führen und ist ein anerkanntes Mitglied der Gemeinschaft. Ihre Geschichte darf kein Einzelfall bleiben, sondern muss zur Selbstverständlichkeit für die größte Minderheit der Welt werden. Eine Milliarde Menschen mit Behinderungen wollen mit ihren Fähigkeiten gesehen und eingebunden werden.

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erschienen in Ausgabe 11 / 2022: Leben in Krisenzeiten
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