Helferinnen unerwünscht

Ibrahim
Mitarbeiterinnen einer Hilfsorganisation verteilen in der Stadt Taiz im Süden des Jemen Lebensmittelgutscheine an Hilfsbedürftige.
Jemen
Gegen internationale Hilfsorganisationen und weibliche Helfende ist im Jemen eine Kampagne wegen unmoralischen Verhaltens im Gang. Unter anderem Trainings zu ­Frauenrechten erzürnen ­konservative Geistliche.

Aufgebracht erklärt die 59-jährige Fatima in der Stadt Taiz, warum sie den Kontakt zu einer Nachbarin abgebrochen hat, die seit kurzem für eine internationale nichtstaatliche Organisation (INGO) im Jemen arbeitet: „Jeden Morgen verlässt sie mit unbekanntem Ziel das Haus, zusammen mit einer unbekannten Person und unter dem Vorwand, Menschen zu helfen. Wer so handelt, ist schlecht. Zu so jemand kann ich keine Beziehung aufrechterhalten.“

Fatima ist Hausfrau und lebt in einer konservativen Gesellschaft, in der Frauen nur in wenigen Berufen tätig sein dürfen, als Lehrerinnen etwa oder als Ärztinnen und Krankenschwestern. Dass sie ohne Aufpasser unterwegs sind oder Umgang mit Männern haben und dabei gar geschminkt sind, wird nicht akzeptiert. „Wir benutzen Make-up nur, wenn wir mit unseren Ehemännern zusammensitzen oder bei einer Hochzeit. Doch diese Frauen tragen welches auf, wenn sie zur Arbeit gehen. Was für eine Art von Arbeit soll das sein, für die sie Make-up benötigen? Braucht man das etwa, um Bedürftigen zu helfen?“, sagt Fatima mit Befremden in der Stimme.

Zu der Nachbarin, die Anfang zwanzig ist und einen Bachelorabschluss in Pädagogik hat, pflegte Fatima früher ein gutes Verhältnis. Damit war Schluss, als sie erfuhr, dass die junge Frau Arbeit bei einer INGO aufgenommen hat. „Ich habe für sie gebetet, dass sie eine Beschäftigung als Lehrerin findet, ich habe sie wie eine jüngere Schwester behandelt. Aber als ich hörte, was für eine Stelle sie angetreten hat, war ich schockiert“, erzählt Fatima.

Mit ihrer Meinung steht Fatima nicht allein. Auch viele Aktivisten in sozialen Medien und geistliche Oberhäupter kritisieren die weiblichen Helferinnen und die INGOs im Jemen und werfen ihnen moralischen Verfall vor.

Diskreditierung vor großem Publikum

So auch der jemenitische Parlamentsabgeordnete und bekannte Islamgelehrte in Taiz, Scheich Abdullah Al-Odaini. Christen und Juden hätten seit Jahrhunderten Frauen entwürdigt und sie so als Waffe gegen den Islam eingesetzt, meinte er in einer seiner Reden. „Heute tun die Vereinten Nationen und andere INGOs alles, um die Moral muslimischer Frauen zu zersetzen. Alles andere, was sie eigentlich tun sollten, lassen sie dafür liegen.“ Al-Odaini hat in Freitagspredigten vor großem Publikum und in sozialen Medien Helferinnen kritisiert – und viele stimmen ihm zu.

Wafa‘a arbeitet seit 2021 für eine INGO im Jemen. Sie war viel mit Kritik, Anschuldigungen und manchmal auch Drohungen konfrontiert und mehr als einmal kurz davor, ihren Job hinzuwerfen. „Anfangs war es sehr schwierig, meinen Vater von meiner Arbeit zu überzeugen, denn er hörte immer wieder Anschuldigungen gegen Helferinnen“, sagt sie.

Also nahm Wafa‘a ihn mit und zeigte ihm, wie sie hilft, Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen. Das habe ihrem Vater vor Augen geführt, dass sie nichts Falsches tut. „Meine Eltern haben mir erlaubt, diesen Job auszuüben, und wurden dafür dann heftig kritisiert. Nicht nur ich, sondern die ganze Familie wurde von unserer konservativen Gemeinschaft ausgegrenzt.“ Ihre Eltern standen ihr zur Seite, und auch ein paar andere in ihrer Gemeinde begegnen ihrer Arbeit allmählich mit mehr Wohlwollen. „Mit manchen Freunden trifft sich mein Vater aber nicht mehr, wegen all der Hetze“, berichtet Wafa‘a. Kampagnen gegen Helferinnen machen es für ihn schwierig, Menschen von ihrer ablehnenden Haltung abzubringen, daher weicht er solchen Leuten aus.

„Besser die Kriegsparteien kritisieren, die unser Land zerstört haben“

Wafa‘a bestätigt, dass sie ständig von diesen Kampagnen hört und selbst die Zielscheibe von Kritik ist. Aber das schert sie wenig: Sie hält alle, die sich an solchen Kampagnen beteiligen, für rückwärtsgewandte Leute, die nicht ihren Verstand benutzen, um zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Sie reden über Dinge wie die sexuelle Ausbeutung von Frauen und Zusammenkünfte von Männern und Frauen, bei denen diese sich unmoralisch verhalten. „Ich weiß, dass solche Anschuldigungen einige Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen zur Aufgabe ihrer Arbeit gezwungen haben. Aber ich bin dagegen. Wir sollten uns solchen Kampagnen stellen und rückwärtsgewandten Leuten beweisen, dass wir hier sind, um den Jemeniten zu helfen, ihr Leid zu bewältigen. Die, die Hilfsgüter wie Lebensmittel und Wasser erhalten, reagieren wohlwollend. Wer aber nichts bekommt oder nur Bewusstseinsbildung und Training, kritisiert die INGOs“, sagt Wafa‘a. „Die Gegner von INGOs und von deren Mitarbeiterinnen sollten besser den Jemeniten helfen und die Kriegsparteien kritisieren, die unser Land zerstört haben.“

Ahmed stimmt zu. Er musste seine Heimatstadt Taiz verlassen, weil sein Haus im Krieg stark beschädigt worden war; ihm blieb damals nichts anderes übrig, als in einem Lager für vertriebene Familien zu leben. „Ohne die Hilfsorganisationen hätte ich nicht in mein Haus zurückkehren können. Sie haben mir geholfen, es instand zu setzen und mein normales Leben wieder aufzunehmen“, sagt er.

Ahmed hat von den Kampagnen gegen INGOs gehört und hatte mit vielen zu tun, die die Organisationen kritisieren. Er aber verteidigt sie. „Es gibt heute keine Regierung, die einem hilft, und großzügige Mitmenschen können Betroffenen nicht ermöglichen, nach Hause zurückzukehren. Organisationen können und tun das. Sie spielen die Hauptrolle bei der Linderung unseres Leids im Krieg“, meint er. „Alle Bewohner meines Viertels unterstützen die INGOs, da sie von ihnen Hilfe bekommen haben.“ Ahmed denkt, dass Frauen durchaus für Organisationen arbeiten können: „Die gute Frau wird an jedem Ort gut bleiben und die schlechte ist überall schlecht.“

Missliebige Unterstützung für LGBTIQ+-Personen

Im Oktober 2022 wurde eine der INGOs im Jemen von islamischen Scheichs beschuldigt, LGBTIQ+-Personen zu unterstützen. Das ist weder im Islam noch in den jemenitischen Traditionen akzeptabel. Die Wut auf INGOs war daher groß.

Autor

Ibrahim

Der Autor schreibt hier unter Pseudonym. Sein Name ist der Redaktion bekannt.
Ausgelöst hat sie Scheich Younes Al-Adani: In Sprachbotschaften rief er die Jemeniten auf, auf der Straße gegen die Organisation Intersos zu protestieren, eine italienische NGO, die im Jemen und in anderen Ländern tätig ist. „Intersos unterstützt LGBTIQ-Personen mit Bargeld und mietet Wohnungen für sie in der Stadt Aden“, sagte er. Er habe, versicherte der Scheich, das Viertel aufgesucht, in dem diese Personen leben, und festgestellt, dass Intersos ihnen hilft. Er forderte die jemenitische Regierung auf, diese Arbeit von INGOs zu stoppen, „da sie gegen den Islam und gegen die menschliche Natur verstößt“.

Scheich Abi Mohammed Al-Hajjori – ein salafistischer Scheich – sagt in einem auf Youtube veröffentlichten Audio: „Nicht nur eine INGO unterstützt LGBTIQ+-Personen, sondern die Vereinten Nationen und Länder wie das Vereinigte Königreich, Amerika, Frankreich, Deutschland, Israel und andere rufen dazu auf. Es ist eine Katastrophe, dass eine solche Organisation in der Stadt Aden existiert.“

Die UN und INGOs veröffentlichen auf ihren Social-Media-Kanälen Beiträge zur Unterstützung von LGBTIQ+-Personen. Das hat dazu beigetragen, die Wut gegen die INGOs im Jemen zu schüren. Intersos hat auf diese Vorwürfe nicht reagiert und war für einen Kommentar nicht erreichbar.

„Schulungen über Gentalverstümmelung sind inakzeptabel und überflüssig“

Badie Abdulkhaleq, ein jemenitischer Lehrer für Islamische Studien, ist der Auffassung, dass manche Helferinnen ihre Arbeit machen, wie es sich gehört, andere dagegen nicht. Nach seiner Ansicht liegt das daran, wie gut die Familie jeweils das Verhalten ihrer weiblichen Mitglieder kontrolliert. „Manche Helferinnen gehen modisch herausgeputzt und mit Make-up zur Arbeit. Das ist nicht in Ordnung, es verstößt gegen den Islam und die jemenitischen Traditionen. Andere sind bescheiden gekleidet und machen ihre Arbeit, um der notleidenden Bevölkerung zu helfen, nicht um Männer anzuziehen“, sagt er.

Er findet es gut, wenn INGOs Menschen mit Lebensmitteln, Wasser und grundlegenden Dienstleistungen helfen, kritisiert aber INGOs, die sich mit Themen wie „Schutz vor Gewalt gegen Frauen und Sensibilisierung in sexuellen Fragen“ befassen. Damit bezieht er sich auf den Einsatz gegen weibliche Genitalverstümmelung. „Denken Sie daran, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der kaum jemand genug zu essen bekommt. Wir sind schockiert, wenn Frauen von einer im Jemen tätigen INGO in modernen Autos in unser Dorf kommen und dort eine Schulung abhalten über Gewalt gegen Frauen und über weibliche Genitalverstümmelung, die es in unserer Gemeinschaft gar nicht gibt“, so Badie. „Das ist eine Katastrophe und aus zwei Gründen nicht akzeptabel. Erstens sollten Frauen solche Arbeit nicht machen und zweitens brauchen wir so ein überflüssiges Projekt nicht. Ich würde es vorziehen, dass diese INGOs den Jemen verlassen, statt dass sie ein solches Training für hungernde Menschen durchführen, die darauf warten, dass jemand sie mit dem Notwendigsten versorgt.“

Die Kleidung mancher Mitarbeiterinnen von Hilfsorganisationen, Gerüchte, dass sie sexuell belästigt würden, und solche Projekte sind die Hauptgründe für den Zorn mancher Jemeniten auf INGOs. „Wir hören Vorwürfe von moralischer Verderbtheit gegenüber Helferinnen und die ist in unserer Gesellschaft nicht akzeptabel. Aber wir können uns beim Urteil über INGOs nicht auf Gerüchte verlassen“, meint Badie. „Wir hoffen, dass die Regierung eingreift und die Arbeit dieser INGOs überwacht.“

Koranstudien in der Großen ­Moschee in Jemens Hauptstadt Sanaa. Einige muslimische Prediger verurteilen die Beschäftigung von Frauen in Hilfsorganisationen als „unmoralisch“.

Nach Angaben des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) werden im Jahr 2023 zwei Drittel der jemenitischen Bevölkerung – über 21 Millionen Menschen – humanitäre Hilfe und Schutzleistungen benötigen. Versuche, mit Mitarbeitenden von INGOs zu sprechen, sind an deren Bedenken gescheitert, mit Medien zu reden. Lediglich einer hat eingewilligt, sich anonym zu äußern, weil er in einer konservativen Gesellschaft arbeite und mit vielen Empfindlichkeiten umgehen müsse.

Die Einschüchterung wirkt auf INOGs motivierend

Seit mehr als 14 Jahren arbeitet er für INGOs und bestätigt, dass die Zeit jetzt die schlimmste für Entwicklungshelfer ist, weil in sozialen Medien und von einigen Scheichs ständig gegen sie gehetzt wird. „Weibliche Entwicklungshelfer tun wie die männlichen ihr Bestes, um den Jemeniten zu helfen – das in einer Gesellschaft, in der es Frauen nicht freisteht, irgendeine Berufstätigkeit zu verrichten, und in der sie nicht einmal reisen oder tragen dürfen, was sie wollen“, sagt er. „Einige Leute beschuldigen jede Frau, die ihr Haus ohne Aufpasser verlässt. Viele Helferinnen stellen deshalb ihre Arbeit ein, nur um ihren Ruf zu wahren.“

„Der Hauptgrund für diese Kampagnen sind die Entwicklungshelferinnen und die Schutzprojekte, mit denen INGOs verletzlichen Gruppen wie Frauen zu helfen versuchen, ihre Rechte wahrzunehmen.“ Die Kampagnen motivierten ihn und viele andere Mitarbeitende von Hilfsorganisationen aber noch, die Arbeit fortzusetzen. Zwar sei sie eine Herausforderung, die er aber überwinden will mit dem Ziel, der jemenitischen Bevölkerung zu helfen.

Unterstützung für LGBTIQ+-Personen ist eines der umstrittensten Themen im Zusammenhang mit der Arbeit von INGOs im Jemen. Der Entwicklungshelfer bestreitet, dass sie diesen Menschen nur wegen der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe beistehen, sondern es würden alle gefährdeten Menschen unterstützt. „Wir unterscheiden nicht zwischen LGBTIQ+-Personen und anderen. INGOs helfen Menschen in Not, unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität. Doch es gibt Leute, die INGOs und Entwicklungshelfer mit unbegründeten Vorwürfen angreifen.“

Aus dem Englischen von Anja Ruf.

Einige Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert.

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erschienen in Ausgabe 2 / 2023: Religion und Frieden
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