„Gewaltfreiheit wird immer infrage gestellt, nicht aber der Krieg“

Joao Laet/AFP via Getty Images
In Brasilien leisten Indigene zivilen Widerstand gegen die Abholzung von Wald auf ihrem Land.
Soziale Verteidigung
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine wird in Deutschland und im Westen über Waffenlieferungen und „Kriegstüchtigkeit“ diskutiert. Gewaltfreier, ziviler Widerstand gegen Angreifer steht kaum zur Debatte. Christine Schweitzer vom Bund für Soziale Verteidigung erklärt, warum sie das Bundeswehr-Sondervermögen streichen würde und warum ihr die gewaltfreien Bewegungen im globalen Süden Mut machen. 

Christine Schweitzer ist Geschäftsführerin des Bundes für Soziale Verteidigung (BSV) und Mitarbeiterin im Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung. Der BSV setzt sich für zivile Konfliktbearbeitung sowie die Abschaffung von Militär und Rüstung ein.

Vor zwei Jahren hat Russland die Ukraine angegriffen, seit Mitte Oktober kämpfen Israel und die Terrororganisation Hamas gegeneinander. Im Sudan herrscht Bürgerkrieg, im Osten der DR Kongo leiden die Menschen seit Jahrzehnten unter Kriegen. Wie geht es Ihnen angesichts dieser Weltlage? 
Das ist eine sehr bedrückende Situation. Ich habe das Gefühl, dass vieles, was wir in den vergangenen Jahrzehnten an ziviler Konfliktbearbeitung, Gewaltfreiheit und Friedensarbeit erreicht haben, zurückgeschraubt wird. Hinzu kommt, dass hierzulande fast nur die Kriege in der Ukraine und in Gaza auf der Tagesordnung stehen, jene im globalen Süden werden kaum beachtet. 

Bundesverteidigungsminister Pistorius hat Ende Oktober gesagt, Deutschland müsse wieder „kriegstüchtig“ werden. Damit hat er nicht nur die Bundeswehr, sondern die ganze Gesellschaft gemeint. Hat er recht? 
Nein, hat er nicht. Ich finde das eine ganz erschreckende Vision. Ich frage mich, was er sich vorstellt: Meint er wirklich, Deutschland sei bedroht und müsse sich auf einen Krieg vorbereiten? Ich finde, all die Programme zur Aufrüstung – das 100-Milliarden-Sondervermögen und die anderen Schritte – müssen zurückgenommen werden. Es kann nicht angehen, dass für die Kriegsvorbereitung riesige Summen zur Verfügung gestellt werden und dafür bei den Ärmsten der Armen gespart wird, in Deutschland etwa bei der Unterstützung für Geflüchtete, weltweit bei der Entwicklungszusammenarbeit. 

Haben Sie keine Angst, dass Putin nach einem Erfolg in der Ukraine auch andere Länder angreifen könnte? 
Ich sehe da keine Erfolgsaussichten für Russland. In der Ukraine ist das jetzt zu einem Stellungskrieg geworden, in dem keine Seite eine gute Chance hat, zu gewinnen. Unsere Meinung ist, dass es jetzt endlich zu Verhandlungen kommen muss. Und dass auch von westlicher Seite Druck auf die Ukraine ausgeübt werden muss, damit sie sich dazu bereiterklärt. 

Aber das Argument ist, dass Putin nur ernsthaft verhandelt, wenn die Ukraine militärisch stark ist.
Ich glaube trotzdem an die internationale Diplomatie. Natürlich stellen beide Seiten erst einmal unerfüllbare Bedingungen an den jeweils anderen. Aber erfolgreiche Verhandlungen in anderen Konflikten haben immer mit unrealistischen Forderungen begonnen. Wir bräuchten jetzt eine Diplomatie, die die verhandelbaren Möglichkeiten erörtert. Auf der praktischen Ebene gibt es ja schon Gespräche, zum Beispiel zum Getreidetransport oder zum Gefangenenaustausch. Mir fehlt momentan auf der westlichen Seite der Wille zu Verhandlungen. Die Ukraine ist abhängig vom Westen, da gäbe es durchaus Hebel. Wir haben in anderen Kriegen gesehen, dass auswärtige Verhandler ganze Friedenspläne vorgelegt haben. Ich denke da nur an Bosnien 1995: Da hat der Westen starken Druck auf alle Seiten ausgeübt, bis alle zugestimmt haben.

Im Titel Ihres Vereins und in Ihrer Kampagne „Wehrhaft ohne Waffen“ steht die „Soziale Verteidigung“ im Mittelpunkt. Können Sie die Idee dahinter skizzieren? 
Der Grundgedanke ist, dass Krieg angesichts der Zerstörungen und des Verlustes an Menschenleben in keinem Land der Welt verantwortlich geführt werden kann. Deswegen braucht es Alternativen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben selbst hohe Militärs gesagt, dass Krieg nicht mehr führbar ist und wir eine Alternative brauchen. Und diese kann nur ziviler Widerstand sein. Das ist natürlich eine sehr radikale Idee, aber ich glaube, es lohnt sich, darüber nachzudenken: Statt 100 Milliarden Euro in Technologie und Soldaten zu stecken, die letztlich der Vernichtung dienen, sollten wir Alternativen wie die zivile Konfliktbearbeitung aufbauen und uns für den – meiner Meinung unwahrscheinlichen – Fall, dass wir von außen angegriffen werden, mit zivilem Widerstand vorbereiten.

Wie würde das konkret aussehen? 
Konfliktprävention sollte immer der erste Schritt sein. Da sind wir uns übrigens mit den Militärs einig; auch die sagen, es ist das Wichtigste, einen Krieg zu verhindern. Wenn das nicht gelingt, muss man zwar im schlimmsten Fall eine Besatzung hinnehmen, kann aber mit Sozialer Verteidigung dafür sorgen, dass der Besatzer seine Kriegsziele nicht durchsetzen kann. Es geht nicht darum, die Grenzen eines Staates zu verteidigen, sondern die eigene Lebensweise. Ein Besatzer kann beliebig viele ihm wohlgesonnene Politiker einsetzen, um ein besetztes Land zu kontrollieren, aber wenn die Bevölkerung und der Beamtenapparat nicht mitspielen und ihm nicht gehorchen, ist er ziemlich hilflos. Ein frühes Beispiel der Sozialen Verteidigung ist der Kapp-Putsch 1920 in Deutschland, als Freicorpsoffiziere gegen die junge Weimarer Republik putschten. Es folgte ein Generalstreik, weder die Beamten noch die Gewerkschaften kooperierten mit den Putschisten. Weil niemand ihren Befehlen folgte, war der Putsch nach wenigen Tagen vorbei. 

Mahatma Gandhi spricht im März 1931 zu seinen Anhängern. Der von Gandhi angeführte Widerstand der indischen Bevölkerung gegen die britische Kolonialmacht gilt als Paradebeispiel für gewaltfreie soziale Verteidigung.

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs ist der öffentliche Diskurs bestimmt von Waffenlieferungen und Aufrüstung. Wird Ihr Vorschlag in der Öffentlichkeit wahrgenommen? Wie versuchen Sie, Menschen davon zu überzeugen? 
Die Umstände und die mediale Berichterstattung sprechen zurzeit nicht für uns. Da sind noch dicke Bretter zu bohren. Deswegen machen wir keinen öffentlichen Druck, sondern schauen erst einmal in unseren drei Modellregionen Berlin-Moabit, Wendland und Oberrhein, was der Aufbau von Sozialer Verteidigung in den jeweiligen Regionen hieße. Mit unseren Erfahrungen aus den Modellregionen haben wir dann sicher gute Argumente dafür, es auch bundesweit zu versuchen. 

Wie wird in den Modellregionen gearbeitet? 
Wir wollen dort zum einen auf öffentlichen Veranstaltungen das Konzept der Sozialen Verteidigung bekannter machen. Zum anderen versuchen wir, gezielt Leute anzusprechen, die im Falle der Sozialen Verteidigung von besonderer Bedeutung wären und Einfluss haben – zum Beispiel Mitarbeitende des Roten Kreuzes, des Technischen Hilfswerks, Kommunalpolitikerinnen und -politiker sowie lokale Unternehmerinnen und Unternehmer. Wir wollen Planspiele machen, bei denen diese Menschen eingebunden werden. Dadurch soll möglichst anschaulich werden, was es hieße, Soziale Verteidigung vorzubereiten. Es engagieren sich verschiedene Gruppen vor Ort: Am Oberrhein arbeiten zum Beispiel verschiedene Friedensgruppen zusammen, sogar grenzüberschreitend mit Frankreich und der Schweiz. 

Wie sind die Reaktionen? Wird Ihnen manchmal Naivität vorgeworfen? 
Wir erleben sehr oft, dass sich Menschen nicht vorstellen können, wie Gewaltfreiheit funktioniert. Bei vielen ist der Glaube fest verankert, dass nur Gewalt hilft. Wenn ich in meinen Vorträgen zwanzig Beispiele bringe, wo Gewaltfreiheit funktioniert hat – wie im indischen Befreiungskampf, beim Sturz von Präsident Marcos 1986 in den Philippinen oder die jüngsten erfolgreichen Kampagnen gegen Präsidenten, die ihr Amt missbraucht haben, in der DR Kongo, Simbabwe und Sudan –, werden diese oft als Sonderfälle abgetan. Aber niemand fragt, wie oft denn Kriege Erfolg hatten. Es wird immer nur der Erfolg von Gewaltfreiheit infrage gestellt. Dabei gibt es die Studie von Erica Chenoweth und Maria Stephan, die bewiesen hat, dass gewaltfreie Widerstandsbewegungen doppelt so erfolgreich waren wie gewaltsame.

Gibt es ähnliche Initiativen wie Ihre im globalen Süden? 
Eigentlich gibt es in jedem Land der Welt Bewegungen, die mit den Mitteln der Gewaltfreiheit kämpfen. Das könnte man in vielen Fällen als Soziale Verteidigung bezeichnen, auch wenn der Begriff dort nicht benutzt wird. Immer wenn ich Menschen aus Bewegungen im globalen Süden treffe und sehe, was sie dort an fantastischen Dingen tun und wie erfolgreich sie damit sind, macht mir das Mut. Da passiert sehr viel, von dem wir was lernen könnten, wenn wir wollten. 

Wo zum Beispiel? 
Ich denke etwa an die Indigenen in Lateinamerika, die sich ohne Gewalt für den Schutz der von Wald und Wasser einsetzen. Oder ich denke an die militärfreien Friedenszonen in Kolumbien. Das ist auch Soziale Verteidigung, denn die Menschen versuchen, ihre Lebensweise gegenüber allen bewaffneten Parteien zu verteidigen. Auch in vielen afrikanischen Ländern gibt es Gruppen, vom Sudan bis West- und Südafrika, die sich für den Schutz der Zivilbevölkerung einsetzen. Zum Beispiel gibt es Frauenteams für den Frieden im Südsudan, die schnell intervenieren, wenn irgendwo Gewalt droht, und mit ihren Gemeinschaften vor Ort daran arbeiten, Konflikte zu verhindern oder zu überwinden. 

Welche Voraussetzungen müssen Gesellschaften für Soziale Verteidigung mitbringen? Ich vermute, nur eine einigermaßen solidarische Gesellschaft mit lebendiger Demokratie und Öffentlichkeit kann gewaltlosen Widerstand organisieren und durchhalten. 
Es gibt aus der Bewegungsforschung die Behauptung, dass drei Prozent aktiv Widerständige ausreichen, wenn sie passiv von der Mehrheit unterstützt werden. Ich bin bei dieser Prozentzahl etwas skeptisch, aber die Forschungsergebnisse zeigen auf jeden Fall, dass aktive Minderheiten ausreichen. Wenn ein Land politisch extrem gespalten ist und ein großer Teil der Bevölkerung sich innerlich von der Demokratie verabschiedet hat, dann wird es allerdings schwierig – zumindest bei einer Bedrohung von innen. Bei einem Angriff von außen kann man eher damit rechnen, dass Menschen sich gemeinsam wehren. Nichts schweißt so zusammen wie ein Angreifer von außen. Aber Sie haben recht: Soziale Verteidigung braucht eine aktive Demokratie, und unsere Gesellschafft braucht aktive Demokratie, wenn sie nicht vor die Hunde gehen will.

Sie geben aber die Hoffnung auf gewaltfreie Konfliktbearbeitung nicht auf, oder? 
Wir sind wirklich weit zurückgeworfen worden. Aber soziale Bewegungen haben eine gewisse Dynamik. Wir haben schon erlebt, dass sie plötzlich stark werden, ohne dass man das vorher erwartet hat. Ich gehöre zu der Generation, die 1980 das Entstehen der Friedensbewegung miterlebt hat, und das hatte man sich nur zwei Jahre vorher nicht vorstellen können. Insofern hoffe ich einfach auf die Vernunft.

Das Gespräch führte Melanie Kräuter. 

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erschienen in Ausgabe 1 / 2024: Krieg ohne Ende?
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