Eine Zukunft für die Kinder

Die Rohingya, eine muslimische Volksgruppe aus Birma, haben in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder unter staatlicher Unterdrückung und Verfolgung gelitten.

Von Christoph Tometten

Eine schlammige Straße führt zu zerbrechlichen Hütten aus Lehm, Holz und Plastikplanen. Dazwischen gabeln sich die Wege, der Schlamm wird tiefer. Überall sind Menschen unterwegs. Nur wenige Gebäude bieten Schutz vor Regen und Nässe – die Schulen mit ihren überfüllten Klassenzimmern, das Büro des Lagervorstehers. Im Flüchtlingslager Kutupalong leben Tausende Rohingya unter prekären Bedingungen. Sie stammen aus Birma, wo sie als ethnische Minderheit muslimischen Glaubens staatlichen Repressionen ausgesetzt sind. Bereits in den 1940er Jahren begann ihre Flucht vor Unterdrückungsmaßnahmen der Regierungen, die sich auf die buddhistische Bevölkerungsmehrheit stützten. Seit 1962 das Militär in Birma die Macht ergriff, hat sich ihre Lage verschärft. Sie sind schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Die birmanische Staatsbürgerschaft wird ihnen verweigert, so dass sie weder Freizügigkeitsrechte noch Ehe- und Bildungsfreiheit genießen. Sie werden illegal enteignet und zu Zwangsarbeit herangezogen. Die Dörfer und Moscheen der Rohingya sind Ziele von Angriffen, sie selbst werden Opfer von illegalen Inhaftierungen. Es gibt sogar Fälle von Folter und außergerichtlichen Tötungen.

Einen Höhepunkt erreichte die Verfolgung zu Beginn der 1990er Jahre. 250.000 Rohingya flohen 1991 über die Grenze in die Gegend von Cox’s Bazar. Zunächst wurden sie von der mehrheitlich muslimischen bengalischen Bevölkerung wohlwollend empfangen. Doch in Bangladesch, dessen Politik immer wieder vom Populismus korrupter Parteien und von sogenannten Interimsregierungen, die vornehmlich aus Militärs bestehen, bestimmt wird, ist die öffentliche Meinung schwankend. Flüchtlingslager sind kein sicherer Zufluchtsort. Zwar unternimmt Bangladesch keine systematischen Abschiebungen, doch bemüht es sich um die „freiwillige“ Rückkehr der Flüchtlinge nach Birma – wo sich die Verhältnisse nicht geändert haben. Mehr als 200.000 Menschen wurden auf diese Weise zurückgedrängt. Zwei Lager, Kutupalong und Nayapara, sind noch übrig. Sie werden vom Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) verwaltet. Mehr als 20.000 Menschen leben hier auf engstem Raum.

Bis vor vier Jahren gehörte auch Abul (Name von der Redaktion geändert) zu ihnen. Der heute 24-Jährige musste das Lager Kutupalong nach einem blutigen Zwischenfall verlassen. Am 18. November 2004 hätten Polizisten und Anhänger der paramilitärischen Gruppe „Ansar“ ein Treffen des Jugendkomitees zum Anlass genommen, in das Lager einzudringen, erzählt er. Das Komitee habe zuvor einen friedlichen Hungerstreik veranstaltet, um gegen die miserablen Lebensbedingungen in Kutupalong zu protestieren. Es sei zu einer Schießerei mit drei Toten und mehr als 40 Verletzten gekommen. Die Regierung von Bangladesch habe den Übergriff als Reaktion auf eine Verschwörung legitimiert. Dutzende von Flüchtlingen seien verhaftet worden, teilweise seien sie bis heute nicht zurückgekehrt.

„Ich war ein Anführer der Jugendkomitees“, sagt Abul. „Ich hatte große Angst vor Folter und Tod. Ich musste wie viele andere das Lager und meine Familie verlassen, um unterzutauchen.“ Seitdem lebt er in Chittagong. Doch sein politisches Engagement hat er nicht aufgegeben. Er versucht, die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft für das Schicksal der Rohingya zu wecken und hat Kontakt zu europäischen Botschaften und zum Repräsentanten des UNHCR aufgenommen.

Per Handy steht Abul weiterhin in Verbindung mit Bewohnern von Kutupalong, vor allem mit Mitgliedern der neu gegründeten „Rohingya Refugee Youth Welfare Association“. Ziel des Vereins ist es, Ruhe und Frieden im Lager zu bewahren und die schädlichen Folgen fortwährender Untätigkeit zu verringern – so heißt es in seiner Satzung. Die jungen Leute wollen Bildung in informellen Unterrichtsgruppen fördern, Aufklärungsprogramme zu Polygamie, häuslicher Gewalt und Familienplanung organisieren, soziale Dienste für kranke und alte Flüchtlinge anbieten, für Umweltschutz sorgen und zum Frieden erziehen. Manches davon konnten sie bereits verwirklichen. Jugendliche geben Nachhilfeunterricht, Spiele werden veranstaltet. Doch fehlt es an Mitteln, um größere  Programme zu organisieren.

Das Engagement der jungen Leute ist dringend nötig. Denn auch wenn Bangladesch die Rohingya als Flüchtlinge anerkannt hat, genießen sie keinerlei Rechte; das Land hat die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert. Sie dürfen sich weder eine Arbeit suchen noch ohne Erlaubnis die Lager verlassen. Sie haben kein Recht auf Eigentum und keinen Zugang zum staatlichen Schulsystem. In den Lagern wurden zwar Schulen eingerichtet, doch sie sind überfüllt und ihr Lehrplan ist auf fünf Jahre beschränkt. Unterrichtsfächer sind nur Englisch, Birmanisch und Mathematik. Als Lehrer fungieren Freiwillige, die eine dreimonatige Lehrerausbildung erhalten haben, manche sind erst 16 Jahre alt.

Die medizinische Versorgung, insbesondere für Frauen, ist unzureichend. Ärzte haben laut UNHCR viermal so viele Patienten wie es internationale Mindeststandards vorschreiben. Das Welternährungsprogramm (WFP) verteilt zwar Lebensmittel, doch die Flüchtlinge klagen über Unterernährung. Grundlage der Verteilung sei ein Familienbuchsystem, das nur selten auf dem aktuellen Stand ist, berichten sie. Noch schlimmer ist die Lage der Flüchtlinge, die Bangladesch nicht anerkannt hat, weil sie nach 1992 ins Land gekommen sind. Viele von ihnen wurden nach Birma abgeschoben, kamen jedoch zurück, weil die Lage dort unverändert ist. Sie leben in überfüllten, selbstgebauten Hütten, wenn sie nicht in Cox’s Bazar oder Chittagong untergetaucht sind.

Bangladesch erlaubt Hilfe in den Lagern

In Kutupalong ist die Schießerei von 2004 noch allgegenwärtig. Abuls Mutter spricht nicht mehr, ihr Blick scheint die Umgebung nicht wahrzunehmen. Sie sei verrückt geworden, seit ihr Sohn weg ist, sagt Sayed (Name von der Redaktion geändert) von der „Rohingya Refugee Youth Welfare Association“. Der Vater eines Jungen, der von den Sicherheitskräften erschossen worden sein soll, bricht bei der Erinnerung daran in Tränen aus. Die Stimmung unter den Flüchtlingen ist ernst. Trotzdem haben sie nicht resigniert. „Wir leben hier seit 16 Jahren, unser Leben ist vorbei“, sagt ein älterer Mann. „Aber wir wollen eine bessere Zukunft für unsere Kinder.“

Mädchen und Jungen gibt es viele in den Lagern. Etwa ein Drittel der Lagerbevölkerung ist minderjährig. Ihr Lächeln, das den Umständen trotzt, bringt Hoffnung auf die Straßen, auf denen man knöcheltief in Schlamm versinkt. Die Regierung von Bangladesch hat inzwischen immerhin zwischenstaatlichen und nichtstaatlichen Organisationen erlaubt, in den Lagern tätig zu werden. Eine Vereinbarung zwischen der Regierung und dem UNHCR regelt die Zusammenarbeit mit dem WFP, dem Roten Kreuz, der „Technical Assistance Incorporated“, die für Wasserversorgung und Sanitätshilfe zuständig ist, und dem „Bangladesh Legal Aid and Services Trust“, das die grundlegenden Rechte der Flüchtlinge gewährleisten will.

Doch die Bemühungen dieser Organisationen und der politisch aktiven Flüchtlinge reichen nicht aus, solange Bangladesch nicht die Genfer Flüchtlingskonvention und ihr Protokoll ratifiziert und damit den Flüchtlingen Schutz nach internationalen Standards zuspricht. Die Rückkehr nach Birma ist nach der Einschätzung des UNHCR und internationaler Menschenrechtsorganisationen für die Rohingya unzumutbar. Die Menschen in Kutupalong sehen daher nur eine Möglichkeit:  Umsiedlung in ein anderes Land. Nach Angaben der „Arakan Rohingya National Organisation“, einer Organisation, die die Belange der Rohingya weltweit vertritt, hat Kanada bisher 42 von ihnen im Rahmen von Umsiedlungsprogrammen aufgenommen. Neuseeland ist für 23 Rohingya zur neuen Heimat geworden. Abul, der frühere Anführer des Jugendkommitees, wird nach Australien ziehen. Aus Europa hingegen schicken die Regierungen lieber Geld, um Hütten bauen zu lassen.

Christoph Tometten studiert Rechtswissenschaften an der Pariser Universität Sorbonne und befasst sich unter anderem mit Migration und Menschenrechten.

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erschienen in Ausgabe 12 / 2008: Wirkung der Entwicklungshilfe
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