Migrationswende ohne Kinderrechte?

Migration
Auch Kinder leiden unter dem härteren Vorgehen gegen Geflüchtete. Doch Kinderrechte und Menschenwürde dürfen keine Verhandlungsmasse im Streit um politische Stimmungen sein, schreibt Katrin Weidemann, Vorsitzende der Kindernothilfe, in ihrer Herausgeberkolumne.

Katrin Weidemann ist Vorsitzende der Kindernothilfe.
Die Bundesregierung spricht von einer „Migrationswende“. Konkret bedeutet das: Kinder in Migrationshaft. Familien, die auseinandergerissen werden. Illegale Zurückweisungen an den EU-Außengrenzen – mit oft tödlichen Folgen. Dabei zeigt selbst die Statistik: Die Zahl der Asylanträge in Deutschland ist rückläufig. 2024 wurden fast 100.000 Anträge weniger gestellt als im Vorjahr. Auch im ersten Quartal 2025 setzte sich der Trend fort. Und 71 Prozent der Kommunen bewerteten die Lage bei ihnen 2024 als herausfordernd, aber handhabbar – deutlich positiver als noch im Oktober 2023, als 40 Prozent eine Überlastung oder den Notfallmodus meldeten.

Trotzdem werden die Gesetze härter und der Ton schärfer: Im Zuge des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems könnten künftig auch Kinder in Haft genommen werden. Der Familiennachzug für subsidiär Geschützte – also für Menschen, die nicht als Flüchtling anerkannt werden, denen aber im Heimatland schwerer Schaden droht – bleibt ausgesetzt. Viele Kinder wachsen so ohne ihre Eltern auf. Nach ihrem Amtsantritt im Mai 2025 hat die Bundesregierung die Aufnahme besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge wie beispielsweise Frauen und Mädchen, die Opfer von Gewalt, Missbrauch oder Ausbeutung geworden sind oder unbegleitete Minderjährige und Kinder, über das UN-Resettlement Program sowie alle freiwilligen Bundesaufnahmeprogramme eingestellt. Die Schließung solcher sicheren, legalen Fluchtwege lässt nur den gefährlichen informellen Fluchtweg zu. Wer flieht, hat oft keine Wahl – und noch weniger Gehör. Das darf nicht so bleiben.

Geflüchtete Kinder erzählen von ihren Erfahrungen

Um Geflüchteten eine Stimme zu geben und zu verdeutlichen, dass es um menschliche Schicksale und nicht um bloße Statistiken geht, schaffen wir Räume für Erfahrung: In der Kindernothilfe-Geschäftsstelle in Duisburg entsteht ein interaktiver Live Escape Room, in dem Interessierte Flucht und Ausgrenzung nicht nur verstehen, sondern emotional erleben können. Angst, Hoffnung, Verlust – solche Erfahrungen verändern den Blick. Wer sie gemacht oder interaktiv nachvollzogen hat, argumentiert anders.

Außerdem haben wir gemeinsam mit der gemeinnützigen Fachstelle XENION für traumatisierte geflüchtete Menschen und Überlebende schwerer Gewalt für Menschen mit Flucht- und Gewalterfahrung sowie der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer die Online-Kampagne #UnmuteRefugees gestartet. Sieben junge Menschen, die als Kinder nach Deutschland geflüchtet sind, erzählen dafür in kurzen Filmen ihre Geschichten. So etwa Robina, die 2017 aus Afghanistan nach Deutschland gekommen ist. Sie kämpft heute nicht nur für die Rechte von Geflüchteten, sondern engagiert sich als Studentin auch für verfolgte Menschen in ihrem Herkunftsland. Sie will denen eine Stimme geben, die keine haben. „Wir schalten den Hass stumm und machen Menschlichkeit lauter“, sagt sie.

Oder Magaji – er floh mit 14 Jahren allein aus Nigeria, um der islamistischen Terrororganisation Boko Haram zu entkommen. Wochenlang war er in der Wüste unterwegs und musste mitansehen, wie Menschen neben ihm starben. Sein größter Wunsch ist, dass Menschen zuhören und verstehen, warum Kinder wie er sich auf so gefährliche Wege begeben: aus purer Hoffnung auf Sicherheit und Leben.

„Stadtbild“-Debatte spaltet Gesellschaft

Denn das, was einmal selbstverständlich war – eine humane und offene Haltung gegenüber Geflüchteten – ist es längst nicht mehr. Und ein Bundeskanzler, der mit seiner „Stadtbild“-Debatte die Gesellschaft spaltet, statt zu vereinen, vertieft die Kluft zwischen einer Politik, die Migration als Problem betrachtet, und großen Teilen der Gesellschaft, die sie als Bereicherung begreift.

Gerade jetzt braucht es Stimmen, die verbinden statt trennen – Stimmen, die Menschlichkeit als Stärke verstehen. Kinderrechte und Menschenwürde dürfen keine Verhandlungsmasse im Streit um politische Stimmungen sein. Echte Veränderung entsteht nicht durch Schlagzeilen, sondern durch Erfahrung. Unser Zuhören, Hinsehen und Mitfühlen zeigen uns, was Menschlichkeit bedeutet.

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