Christen und Muslime diskutieren über den Kapitalismus

Über den Umgang mit struktureller Gier haben Christen und Muslime Ende September in Malaysia auf Einladung des Lutherischen Weltbundes diskutiert. Der Heidelberger Professor Ulrich Duchrow war einer der Hauptreferenten. Er fordert von den deutschen Kirchen mehr Systemkritik und hält wenig vom jüngst erschienenen evangelischen Leitfaden für ethische Geldanlagen.

Wie definieren Sie strukturelle Gier?

Gier ist nicht nur eine Verhaltensweise, sondern die stärkste Triebkraft im kapitalistischen Wirtschaftssystem. Sie ist ein Strukturmerkmal des Kapitalismus. Wer nur auf Kosten und Rendite schaut, fragt „wie rechnet sich das?“, nicht: „wie können wir alle gut leben?“.

Alle Religionen bezeichnen die Gier als ein Übel. Trotzdem ist die Herrschaft des Marktes offenbar ungebrochen. Hatten die Delegierten in Malaysia dafür eine Erklärung?

Die Macht des Marktes wird sehr wohl hinterfragt. Im Islam gibt es bis heute das Zinsverbot. Und im christlichen Bereich stellt die gesamte ökumenische Bewegung das globale Wirtschaftssystem in Frage. Der Lutherische Weltbund, der Reformierte Weltbund und der Ökumenische Rat der Kirchen haben in Vollversammlungsbeschlüssen den Kapitalismus verworfen. Das Problem ist, dass die europäischen Kirchen, insbesondere die Kirchen in Deutschland und in der Schweiz, diese Beschlüsse nicht ernst nehmen. Sie behaupten nach wie vor, dass wir in Europa eine soziale Marktwirtschaft haben. Das ist spätestens seit dem Vertrag von Lissabon falsch. Er schreibt für den Binnenmarkt das Prinzip der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb fest. Die deutschen und schweizerischen Kirchen stellen den Kapitalismus an sich nicht in Frage.

Wie erklären Sie das?

Sie sind von den Mächtigen kooptiert, also in den eigenen Zirkel aufgenommen. Religionen haben große Macht über die Herzen und Köpfe der Gläubigen. Entsprechend werden die Mächtigen immer versuchen, die Religion oder Teile von ihr zu kooptieren.

Sind wir alle Gefangene des Systems oder bieten die Religionen einen Ausweg?

Alle Menschen sind davon betroffen, dass das kalkulierende Denken über das soziale Denken gesiegt hat. Es gibt für die Kirchen aber einen Ausweg. Sie müssen selbstkritisch sein. Nur eine selbstkritische Gemeinschaft kann glaubhaft für Systemalternativen eintreten.

Meinen Sie wirklich, dass die Kirchen das gesamte System beeinflussen können?

Davon bin ich überzeugt. Wenn die Kirchen einmal aufwachen, können sie eine große Kraft entwickeln. In Südafrika zum Beispiel waren die Kirchen entscheidende Träger des Widerstandes gegen die Apartheid. Und in einigen lateinamerikanischen Ländern, in denen der Kapitalismus früher brutal geherrscht hat, haben wir heute sozial und ökologisch denkende Regierungen. Ohne die Befreiungstheologie wäre das nicht möglich gewesen.

Gibt es auf muslimischer Seite Stimmen, die islamische Institutionen für ihr Auftreten als Wirtschaftsakteure kritisieren?

Es gibt sehr kritische muslimische Befreiungstheologen wie zum Beispiel den Südafrikaner Farid Esack oder Chandra Muzaffar aus Malaysia. Sie stellen das Wirtschaftssystem sehr in Frage.

Wer ist gieriger, die Christen oder die Muslime?

Das Christentum ist am tiefsten in den Sumpf geraten. Das liegt nicht etwa daran, dass der Calvinismus dem Kapitalismus den Weg bereitet hätte. Diese These von Max Weber ist hinreichend widerlegt. Vielmehr ist der christlich geprägte Westen die treibende Kraft in der kapitalistischen Weltwirtschaft und einige Kirchen haben sich zu Komplizen machen lassen. Auch islamische Institutionen sind teilweise kooptiert. Allerdings sind auf muslimischer Seite die Kräfte stärker, die den Kapitalismus als Teil des westlichen Systems in Frage stellen. Das liegt mit daran, dass der Westen den Islam immer wieder sehr unqualifiziert angegriffen hat.

Worin liegt der Mehrwert einer interreligiösen Tagung zu diesem Thema?

In allen Religionen ist das Gerechtigkeitsprinzip verankert und alle Religionen können spirituelle Kräfte mobilisieren. Die braucht es, um wirklich etwas zu verändern. Wenn wir so weitermachen wie bisher, machen wir die Erde kaputt. Nicht nur Strukturen müssen verändert werden, sondern auch unser Denken und Handeln. Außerdem können ganz nebenbei Vorurteile gegeneinander abgebaut werden, wenn sich die Religionen gemeinsam für Gerechtigkeit einsetzen.

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat unlängst einen Leitfaden für ethische Geldanlagen herausgegeben. Was kann er bewirken?

Bisher haben die Kirchen Wirtschaftsfragen gerne den Experten überlassen. Daher ist es ein leichter Fortschritt, dass man sich jetzt einmal theologisch mit dem Thema Wirtschaft auseinandersetzen will. Inhaltlich ist der Leitfaden aber sehr schwach. Es gibt keinerlei Systemkritik. Ebenso fehlt eine grundsätzliche Aussage zum Thema Zins. Auch weist die EKD-Schrift nicht auf die 35 alternativen Banken in Europa hin. Dabei könnte die Kirche wirklich Vorreiter sein beim Thema ethische Geldanlage und viel dazu beitragen, dass Geld wieder eine dienende Funktion bekommt. Stattdessen bleibt die Kirche aber vollständig im System angesiedelt und legt sich nicht mit den Mächtigen an.

Was könnte die Kirche denn konkret gegen das herrschende Wirtschaftssystem tun?

Zuallererst müsste sie die Mythen hinterfragen, auf denen das Wirtschaftssystem aufbaut. Dann muss sie viel klarer Position beziehen. Insgesamt sollte die Kirche eine Doppelstrategie fahren und auf der einen Seite lokale und regionale Ansätze unterstützen wie zum Beispiel Tauschringe, Konsum- und Produktionsgenossenschaften oder kommunale Energieversorger. Zum anderen muss die Kirche Bündnisse bilden mit Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und anderen gesellschaftlichen Kräften. Gemeinsam müssen sie Druck von unten machen, zum Beispiel gegen die Privatisierung von Gütern der Grundversorgung wie Wasser, Energie, Transport, Erziehung und Gesundheit, insgesamt gegen die Herrschaft der Finanzmärkte.

Und Sie meinen, das funktioniert?

Auf alle Fälle. In der Bevölkerung gibt es weltweit bereits viel Dynamik. Wenn die Kirchen sich da anschließen, können sie sehr viel verändern.

Das Gespräch führte Katja Dorothea Buck.

 

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erschienen in Ausgabe 11 / 2011: Nigeria: Besser als sein Ruf
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