Der Kampf ist noch nicht gewonnen

Die Protestbewegung in Tunesien hat den Phrasen des Regimes, das sich als Hüter der Menschenrechte ausgab, die Forderung nach einem Leben in Würde entgegengesetzt. Ob sie erfüllt wird, ist offen. Die Übergangsregierung hat mit der Verschiebung der Wahlen bereits Vertrauen verspielt. Und viele Politiker schüren die Angst vor den Islamisten, statt Erklärungen von ihnen zu fordern, welche politischen Lösungen genau der Islam anbieten soll.

Seit Dezember 2010 verwenden Fachleute viel Energie darauf festzustellen, ob die Ereignisse in Tunesien eine „wahre“ Revolution, eine „erfolgreiche“ soziale Bewegung oder einen „richtigen“ demokratischen Übergang darstellen. Erstaunlich wenig wurden aber die spezifischen Forderungen und der Unmut beachtet, aus denen die Proteste in Tunesien hervorgegangen sind. Die dramatische Selbstverbrennung von Mohamed Bouazizi, die den Aufstand ausgelöst hat, war mehr als ein bloßer Ausdruck der Verzweiflung: Sie war ein Aufruf, die Würde und Menschlichkeit der Tunesier zu respektieren. Die Begriffe Würde (karama) und Respekt (ihtiram) haben bei den Mobilisierungen bis Februar 2011 eine entscheidende Rolle gespielt. Unzählige Kommentare über die vermeintlich unzureichende politische Organisation oder den Mangel an Führung in den tunesischen Protesten gehen völlig an dem vorbei, was die Forderungen der Demonstranten besonders auszeichnet.

Autorin

Nadia Marzouki

ist Politikwissenschaftlerin. Die gebürtige Tunesierin arbeitet derzeit an der Europäischen Hochschule in Florenz.

Seit Ben Alis Staatsstreich im Jahre 1987 nämlich sind manche Begriffe völlig ihrer Bedeutung entleert worden. Das Vokabular von Demokratie und Menschenrechten wurde von Schein-NGOs und von der Regierung Ben Ali missbraucht, die sich als Vorkämpfer für Demokratie, Gleichberechtigung von Mann und Frau und Menschenrechten aufspielten. Vor diesem Hintergrund konnte ein authentischer und aufrichtiger Protest nur die Forderung nach der Menschenwürde zum Inhalt haben, nicht ideologisch verbrämte und sinnentleerte Begriffe der üblichen „demokratischen Politik“. Eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen der Revolution ist nun, dass ein Rückfall in die alten Tricksereien und hohlen ideologischen Schlagwörter vermieden wird. Béji Caïd Essebsi, der am 27. Februar zum Premierminister der Übergangsregierung ernannt wurde, konnte zunächst die Öffentlichkeit besänftigen und ein gewisses Vertrauen wecken, dass es ihm um einen raschen demokratischen Übergang ging. So versprach er am 4. März den Tunesiern, dass gemäß den Forderungen der Demonstranten am 24. Juli Wahlen zu einer verfassunggebenden Versammlung stattfinden würden. Seit April schwindet jedoch das Vertrauen in die Fähigkeiten der Übergangsregierung und in ihr Engagement für Demokratie – vor allem unter jungen Menschen. Die meisten Teilnehmer an der tunesischen Revolution waren jünger als 35 Jahre und ihr Gefühl der Hoffnungslosigkeit im Blick auf den Arbeitsmarkt ist unverändert.

Eine beachtliche Minderheit der jungen Leute im Land hat nach wie vor einen einzigen Traum: die Flucht nach Europa. Andere organisieren sich und gehen bei den neuen politischen Parteien auf Ideensuche. Allerdings klafft weiterhin eine große Lücke zwischen dem Aktivismus der Jugend und den Antworten der Regierung. Junge Menschen machen sich zunehmend Sorgen über ihre unmittelbare Zukunft: Wie werden sie ihr Studium abschließen können? Wie Arbeit finden? Werden sie heiraten und eine Familie unterhalten können? Sie ringen mit sich, wie sie konstruktiv zur nationalen Debatte beitragen können. Angesichts dieser Gemengelage ist es besorgniserregend, dass Essebsi der Nation am 4. Mai mitteilte, seine wichtigste Priorität sei, das „Ansehen des Staates“ wiederherzustellen. Dann schlug die Polizei am 6./7. Mai in Tunis und Siliana Demonstrationen nieder, was schließlich am 9. Mai zur Wiedereinführung der Ausgangssperre führte.

Die Übergangsregierung geht nicht nur über die Sorgen der jungen Menschen hinweg. Sie handhabt auch das Thema Wahlen so ungeschickt, dass sie nichts dazu beiträgt, das Vertrauen der Tunesier zu den Institutionen und zur Sprache der Politik wiederherzustellen. Nach mehr als sechs Wochen der Verunsicherung, Gerüchte und Querelen zwischen den Parteien, der Regierung und dem Wahlausschuss kündigte Essebsi am 8. Juni an, dass die Wahlen weder, wie ursprünglich zugesagt, am 24. Juli noch, wie vom Wahlausschuss gefordert, am 16. Oktober, sondern am 23. Oktober stattfinden sollten.

Die Islamisten auszugrenzen, hat sich als schlechte Idee erwiesen

Diese verwirrende Ansage barg zwei sehr schlechte Botschaften für die Tunesier. Die erste ist, dass man Essebsi und der Übergangsregierung nicht trauen kann: Wenn der Premierminister über das Datum der Wahlen einmal gelogen und seine Zusage nicht eingehalten hat, warum sollte man seinen Selbstverpflichtungen glauben, dass er die Macht aufteilen, die Öffentlichkeit konsultieren und dem Volk gegenüber Rechenschaft ablegen will? Zweitens erzeugt die Wahl eines Datums, das schwerlich als Kompromiss zwischen dem 24. Juli und dem 16. Oktober angesehen werden kann, ein Bild vom unberechenbaren Premierminister, der keineswegs den Ausgleich sucht, sondern von oben herab seine Vorstellung von der Herausbildung demokratischer Institutionen durchsetzen möchte.

Diese Gängelei von Seiten der Übergangsregierung hat umso mehr einen bitteren Beigeschmack, als der Staat sich seit Dezember wiederholt unfähig gezeigt hat, die Sicherheit der Tunesier zu gewährleisten. Unlängst ist es in Metlaoui im Süden des Landes zu Unruhen gekommen, die das Unvermögen der Polizei deutlich gemacht haben, Frieden und Sicherheit wiederherzustellen. Unabhängig davon, ob die abwartende Haltung der Sicherheitskräfte Absicht oder das Ergebnis schierer Desorganisation ist, leidet dadurch das Vertrauen zur Übergangsregierung.

Seit Ende Januar 2011 Rachid Ghannouchi, der Mitgründer und Führer der islamistischen Nahda-Partei, aus dem Exil nach Tunesien zurückgekehrt und die Partei in Tunesien wieder zugelassen ist, kreisen die Debatten in und außerhalb des Landes darum, wie ernst es die Partei mit der Demokratie nimmt. Oft werden dabei altmodische Gegenüberstellungen wiederholt und eine zivilisatorische Kluft zwischen Islamisten und Säkularisten behauptet. Doch lassen sich zunehmend einzelne Stimmen vernehmen, die eine solche Polarisierung ablehnen.

Einige Parteien (so die säkulare Mitte-Links-Partei Congrès pour la République, die im rechten Zentrum stehende Afeq-Partei und die neu gegründete islamistische Alliance Nationale pour la Paix et la Prospérité, der mit Kamel Omrane der frühere Minister für Religiöse Angelegenheiten unter Ben Ali angehört) und auch die neuen Gewerkschaften und Studentenverbände haben begriffen, wie vielschichtig die vermeintlich homogene islamistische Wählerschaft ist. Sie weigern sich, nach der alten Methode den Gegensatz zwischen Islamisten und Säkularisten zu schüren. Leider wollen nur relativ wenige diesen dritten Weg gehen. Vergleichsweise mehr machen sich die Ängste vor den Islamisten zunutze und befördern sie. Doch egal wie begründet solche Ängste sein mögen: Die Islamisten auszugrenzen, hat sich sowohl in Algerien als auch in Tunesien als schlechte Idee erwiesen. Akzeptiert man sie wie in Marokko als politische Mitspieler, führt dies zu besseren Ergebnissen.

Relevanter ist die Frage nach der Verbindung zwischen Nahda als sozialer Bewegung (haraka) und Nahda als politischer Partei (hizb). Schon immer hatten die Islamisten ein zwiespältiges Verhältnis zur Parteipolitik – einerseits weil sie der Repression säkularer autoritärer Regime wie dem von Ben Ali ausgesetzt waren, andererseits wegen des eigenen ideologischen Unbehagens gegenüber der Parteinahme für nur einen Teil der Bevölkerung gegen einen anderen. Heute aber brauchen und fordern die Tunesier mehr als je zuvor Klarheit. Das Problem mit dem politischen Islam in Tunesien und anderswo besteht weitgehend nicht darin, dass er zu politisch, sondern dass er nicht politisch genug ist: Er ist nicht in eine transparente und vom Wettbewerb bestimmte politische Sphäre eingebunden, wo sich statt der einen „islamistischen Bedrohung“ verschiedene Parteien islamistischer Couleur bewegen. Noch ist unklar, wo Nahda die Grenze zwischen seinem politischen Vorhaben und seiner moralischen Weltanschauung ziehen wird.

Zwar hängt beides eng miteinander zusammen. Aber es ist für die Tunesier wichtig zu wissen, ob die Partei wirklich plant, zum Aufbau der neuen demokratischen Institutionen beizutragen, oder ob sie lediglich die Rolle des Sittenwächters spielen und sich auf ausgewählte Themen wie Alkohol, Familie und den Bau von Moscheen konzentrieren will. Wenn sie sich voll in den Aufbau eines demokratischen Gemeinwesens einbringen will, statt nur über die Moral der Tunesier zu richten, dann sollte ihr Programm mit derselben Gewissenhaftigkeit diskutiert und bewertet werden wie das aller anderen Parteien. Statt über die Ernsthaftigkeit der Islamisten zu spekulieren, sollte man sie also detailliert fragen, was genau der Islam nach ihren Vorstellungen zu sagen hat und wie er konkret zur Lösung der aktuellen Probleme beitragen kann.

Tunesien muss sich davon lösen, dass die Liberalisierung der Wirtschaft zur Demokratie führt

Will man die spezifischen Gründe für den Ausbruch der Aufstände ernst nehmen, dann muss man die Rufe nach politischer Freiheit und wirtschaftlichen Rechten zugleich aufgreifen und die herablassende, von oben nach unten orientierte Haltung der Politiker aufbrechen. Vertreter der politischen Ökonomie wie Beatrice Hibou und Eric Gobe haben die vielen Fallgruben des so genannten tunesischen „Wirtschaftswunders“ deutlich aufgezeigt. Hinter der Fassade Tunesiens als Musterschüler des Internationalen Währungsfonds (IWF) und seiner vielversprechenden Wirtschaftsliberalisierung verbirgt sich eine düstere Wirklichkeit: Das System gründete auf Korruption und darauf, dass eine räuberische Familie den Reichtum an sich riss. Es fand keine Umverteilung statt und war unmöglich, als Unternehmer Projekte voranzubringen, ohne dass einem Schutzgeld abgepresst wurde.

Heute steht Tunesien wirtschaftlich am Scheideweg. Die jüngsten Ereignisse sind eine deutliche Warnung, nicht in die alten Verhaltensweisen zurückzufallen, die nur auf kurzfristigen Profit angelegt sind. Viele Parteien, Verbände und Experten schlagen neue Ideen und Paradigmen vor, um einige Grundsätze der tunesischen Entwicklung auf den Prüfstand zu stellen. Zum Beispiel wird der Schuldendienst lebhaft diskutiert: Warum sollten die Tunesier Schulden zurückzahlen, die nur der Bereicherung des Ben-Ali-Clans, nicht aber dem Aufbau irgendeiner Infrastruktur gedient haben? Wie kann man die Umverteilung von Wohlstand zwischen den Regionen so umgestalten, dass die Ausbeutung der Peripherie durch das Zentrum beendet wird? Ist der Tourismus die einzig mögliche und nachhaltige Einnahmequelle?

Auf diese komplexen Fragen gibt es keine einfachen Lösungen von der Stange. Trotzdem sind sie entscheidend für die Planung und Verwirklichung einer besseren Entwicklung. Doch in Tunesien herrschen eine Krise und ein Notstand, und alle Gläubiger bieten eilig neue Darlehen an – politisch korrekt „Hilfen“ genannt. Unter diesen Umständen ist ungewiss, ob Tunesien Zeit hat, die Fragen zu beantworten, oder ob es gezwungen sein wird, auf althergebrachte, kurzfristige und fatale Lösungen zurückzugreifen. Das würde wahrscheinlich den Interessen der einheimischen und internationalen Finanzelite besser entsprechen, aber es wäre eine Katastrophe für alle Mohamed Bouazizis im Land sowie eine vertane Chance.

Die Notwendigkeit, Staatsdiener zu bezahlen, Kredite internationaler Organisationen zu bedienen und neue Jobs zu schaffen, darf nicht über eine tiefer liegende Notwendigkeit hinwegtäuschen: ein neues Entwicklungsmodell für Tunesien zu finden. Es muss sich von dem Klischee lösen, dass die Liberalisierung der Wirtschaft zur Demokratie führen kann, und stattdessen gleichzeitig und in Verbindung miteinander die Rufe nach politischer Freiheit und nach sozialen und wirtschaftlichen Rechten aufgreifen. Wie der indische Ökonom Amartya Sen gezeigt hat, geht es bei Armut nicht allein um ein niedriges Einkommen, sondern darum, dass dem Einzelnen individuelle Verwirklichungschancen ebenso verwehrt sind wie die Möglichkeit, seine Rechte – über den abstrakten Anspruch hinaus – tatsächlich auszuüben. Die grundlegende Forderung, an der sich der tunesische Aufstand entzündete, war die nach der Möglichkeit, als Mensch zu leben. Dabei geht es um politische Freiheit und um wirtschaftliche Freiheit als Unternehmer, die miteinander verbunden sind. Hoffen wir, dass Mohamed Bouazizis Schrei nach Würde und Selbstachtung in den Salons von Tunis, Paris und Washington nicht schon wieder in Vergessenheit geraten ist.

Aus dem Englischen von Barbara Kochhan

 

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erschienen in Ausgabe 7 / 2011: Entwicklungsdienst: Wer hilft wem?
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