Den Pioniergeist der Liebe wiederentdecken

Shereen el Feki
Sex und die Zitadelle. Liebesleben in der sich wandelnden arabischen Welt
Hanser-Verlag, Berlin 2013
415 Seiten, 24,90 Euro

Wenn man ein Volk wirklich verstehen wolle, müsse man einen Blick in die Schlafzimmer der Menschen werfen, erklärt die studierte Immunologin. Im Mittelpunkt ihrer Analyse steht Ägypten, das bevölkerungsreichste Land der Region, und hier vor allem die Hauptstadt Kairo. Nach dem Sturz Mubaraks hat das Land sein Selbstbewusstsein und seine Rolle in der Region wiedergefunden, es besteht laut El Feki die einmalige Chance, die Gesellschaft und ihre antiquierte Sexualkultur umzugestalten.

Die Ehe ist in der arabischen Welt der einzig akzeptierte Rahmen für das Ausleben der Sexualität. Zugleich wächst die Zahl derer, die anerkennen, dass nicht alle dem Ehemodell folgen wollen oder können. Sexuelle Rechte aber seien in der Region ein heikles Thema, weil viele dahinter eine westliche Agenda vermuten, die sich Homosexualität, freie Liebe, Prostitution oder Pornographie auf die Fahnen geschrieben habe, schreibt El Feki.

Die Umstürze im arabischen Frühling hatten viele Gründe: wirtschaftliche und politische, aber auch sexuelle Frustrationen. El Feki thematisiert Probleme wie häusliche Gewalt, Vergewaltigung in der Ehe und die Rolle repressiver Regime. Sie geht der Sprachlosigkeit bei sexuellen Problemen von Ehepaaren nach, und stellt dabei fest, dass langweiliger Sex unislamisch sei, wenn man sich die überlieferten Aussprüche Mohammeds zur sexuellen Lust anschaue. Sie verweist auf mittelalterliche Bücher wie die „Enzyklopädie der Lust“ von Ali ibn Nasr, einem Autor aus dem Bagdad des 11. Jahrhunderts, der Sex als Geschenk Gottes an die Menschen darstellte und vorurteilsfrei über Homosexualität schrieb. Diesen Pioniergeist gelte es wiederzuentdecken.

Das sexuelle Klima in der arabischen Welt entspreche dem des Westens vor der sexuellen Revolution

El Feki benennt viele Vorurteile gegenüber Homosexualität. Sie werde vor allem als eine Folge sexuellen Missbrauchs gesehen. Sehr verbreitet seien gefährliche Therapieangebote. Es gebe aber auch kritische Stimmen in der arabischen Welt, die die angebliche Unvereinbarkeit von islamischem Glauben und Homosexualität infrage stellten. Im Gegensatz zu anderen Staaten der arabischen Welt verfüge der Libanon über demokratische Strukturen, die die Arbeit zivilgesellschaftlicher Organisationen ermöglichen. Zwar gebe es auch hier ein homophobes Strafrecht, aber eben auch die erste Homosexuellenorganisation der arabischen Welt, Helem, die sich den Kampf gegen dieses Strafrecht auf die Fahnen geschrieben hat und Aufklärungsarbeit für Öffentlichkeit und Medien betreibt.

Lesben und Schwulen in der arabischen Welt geht es laut El Feki nicht um ein Coming out, sondern um den Schutz der Privatsphäre und dessen verfassungsrechtliche Verankerung. Sie fordern Respekt, Schutz vor Verfolgung und die Anerkennung der Menschenrechte. Das sexuelle Klima in der arabischen Welt entspreche im Wesentlichen dem des Westens vor der sexuellen Revolution, resümiert die Autorin. Eine der wichtigsten Fragen sei, ob den politischen Umwälzungen nun auch eine sexuelle Revolution folge. Denn nur eine Gesellschaft ohne (sexuelle) Unterdrückung, die die sexuellen Rechte der Bevölkerung respektiere, biete einen tragfähigen Boden für Entwicklung. (Klaus Jetz)

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