Kein Korsett für Sahraui-Frauen

Die Sozialwissenschaftlerin Gundi Dick hat sich mit Frauen aus der Westsahara über ihre Rechte und Freiheiten unterhalten. Sie stehen besser da als ihre Schwestern in anderen Teilen der arabischen Welt.

Viel ist in jüngster Zeit vom wachsenden Einfluss des politischen Islam und der untergeordneten Rolle der Frau in traditionellen islamischen Gesellschaften die Rede. Eine der Ausnahmen ist die Westsahara, deren größter Teil seit bald 40 Jahren von Marokko besetzt ist. Der kleinere Teil, abgetrennt durch einen verminten Sandwall, wird von der Befreiungsbewegung Polisario regiert, die für die Unabhängigkeit der Westsahara kämpft. Ein Teil der Bevölkerung lebt im benachbarten Algerien in Lagern.

Weil die Männer im Krieg waren, lastete ein Großteil der Verantwortung für das Leben dort auf den Schultern der Frauen. Verglichen mit Geschlechtsgenossinnen in anderen Teilen der arabischen Welt genießen sie gesellschaftliches Ansehen und große Freiheiten. Sie treten öffentlich auf, beteiligen sich an der Wahl politischer Vertreter und können selbst Ämter übernehmen.

Sind diese Rechte der Ausnahmesituation  geschuldet? Oder hätten sie auch in einem unabhängigen Staat Westsahara Bestand? Diese Fragen beschäftigen die feministische Soziologin Gundi Dick, die in den vergangenen Jahren mehrmals die Lager besucht hat. Für alle, denen dieser „vergessene“ Konflikt nicht so gegenwärtig ist, ruft sie ziemlich detailliert die Geschichte der spanischen Kolonie, des Unabhängigkeitskampfes und des Widerstands gegen die marokkanische Besatzungsmacht in Erinnerung. Doch im Mittelpunkt des Buches stehen Interviews, die Dick teils vor Ort, teils in Österreich und Sevilla geführt hat. Frauen unterschiedlichen Alters berichten über die Vertreibung, Haft und Folter in marokkanischen Gefängnissen und – ganz zentral – über ihr Selbstverständnis als Frauen und ihre Rolle in der Gesellschaft. Dabei wird herausgearbeitet, dass die Frauen schon in der nomadischen Stammesgesellschaft vergleichsweise große Freiheiten genossen und diese später im Widerstand und Lagerleben behauptet und gefestigt haben.

Doch für alle steht der Einsatz für das Selbstbestimmungsrecht als Nation im Vordergrund. Die noch immer nicht völlige Gleichstellung der Geschlechter wird – wie in praktisch allen Befreiungsbewegungen – als „Nebenwiderspruch“ wahrgenommen. Von ihrem Recht, andere Frauen in Führungspositionen zu wählen, machen sie nach eigenen Angaben zu wenig Gebrauch.

„Liegt es an den Einzelnen oder doch an den Strukturen?“, fragt sich die Autorin, die während der Arbeit an diesem Buch ihre eigene europäische Sichtweise hinterfragen lassen muss. Ihr Buch kommt stellenweise etwas zu akademisch daher. Doch es wirft ein Schlaglicht auf eine Gesellschaft, in der der Islam den Frauen kein enges Korsett an Konventionen aufzwingt. Und auf ein Land, in dem die Entkolonialisierung noch immer von den Interessen europäischer Mächte verhindert wird.

Ralf Leonhard

 

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