Gefährlich lebendig: Besuch in Lagos

Der frühe Roman von Teju Cole, der jetzt auf Deutsch vorliegt, zeichnet das Portrait der seit Jahren explodierenden Megastadt Lagos und das Bild eines urbanen Grenzgängers zwischen verschiedenen Kulturen. Das liest sich unterhaltsam, leicht und dennoch anspruchsvoll.

Eine namenlose Erzählerfigur durchstreift die nigerianische Metropole auf der Suche nach einer inneren Ordnung der städtischen Gesellschaft. Lagos zeigt sich als ein Ort der Kindheit, an den der Ich-Erzähler nach langem Aufenthalt in den USA zurückkehrt; unentschieden, ob er für immer bleiben will. Denn diese Stadt – darüber herrscht nie ein Zweifel – ist so faszinierend wie verstörend, Moloch und Kreativitätsmotor zugleich. Der Erzähler wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Empörung und Faszination gegenüber der eigenen Herkunft und Cole inszeniert diese Gratwanderung auf literarisch spannendem Niveau.

27 Kapitel berichten vom Alltag in der Großstadt: Fahrten mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, Markt- und Museumsbesuche, Treffen mit Freunden. Aus dem urbanen Alltagskolorit entwickelt sich stets das Charakteristische der nigerianischen Lebensart. Ausnahmslos durchzieht ein Grundtenor von Unsicherheit und Bedrohung  die Geschichten. Alles Erlebte ist durchsetzt von den Konflikten um Eigentum; das Ungleichgewicht von Reichtum und Armut birgt jederzeit das Risiko, abgezockt, überfallen oder irgendwie zur Kasse gebeten zu werden. Diese Wirklichkeit lässt sich niemals ausblenden – genausowenig, wie die Nigerianer das können.

Zahlreiche, locker erzählte Erlebnisse zeichnen ein lebendiges Bild der Stadt und ihrer Einwohner. Bei einem Auffahrunfall etwa regelt eine ausgiebige Prügelei der Beteiligten den Streit (weniger wütend als rituell) und zeigt, dass es auch in einer schwer kalkulierbaren Gesellschaft vitale Formen der Selbstregulation gibt. Bei der Installation einer Antenne, nach der statt der versprochenen 30 nur ein einziger Sender schneereich zu empfangen ist, lernt man ein weiteres Prinzip nigerianischer Lebensart kennen: Allein die Idee zählt, ungeachtet ihrer praktischen Umsetzung. Das kann lebensgefährlich werden, etwa, wenn es im Verkehr zur Anwendung kommt.

Trotz seines lockeren Tons folgt der Roman einem deutlich soziologischen Kurs. Die Kapitel fügen sich zu wohlkalkulierten Stationen sozialer Existenz: Familie, Freundschaft, Besitz, Gesetz, Sprache, Geschichte und Kultur bis hin zum abschließenden Blick auf den Tod in der Straße der Sargmacher. Stück für Stück erfährt man Wesentliches über die Gemengelage der Weltstadt und noch mehr über die dort herrschende Vernunft und deren (manchmal vermeintlichen) Mangel. Lagos ist auf der einen Seite dem kritischen Blick des rationalen Erzählers ausgesetzt, westliche Vorstellungen von Chaos und Korruption werden bestätigt. Fehlende Standards von Recht und Sicherheit begründen in weiten Teilen der  Gesellschaft soziale und kulturelle Schieflagen.

Umgekehrt aber werden die rationalen Maßstäbe des Erzählers durch die Realität in Lagos und den nigerianischen Kontext selbst auf die Probe gestellt. Gerade der Erfindungsreichtum und die Lebendigkeit der Stadt scheinen den nicht-rationalen Traditionen des Landes verbundener zu sein, als dies dem Erzähler lieb ist. Seine Reise bleibt schließlich nur ein Besuch, und er gegenüber seiner Herkunft unentschieden. Mehr als alles andere lässt sich das Buch als gelungener Versuch lesen, zwei unterschiedliche Denktraditionen verständlich zu machen.

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