Super-GAU von Innen

Der investigative Journalist Tomohiko Suzuki hat sich als Leiharbeiter getarnt an den Aufräumarbeiten im havarierten Atomkraftwerk Fukushima beteiligt. Herausgekommen ist eine Reportage, die mehr Fragen aufwirft als Antworten gibt.

Ein Erdbeben und der darauffolgende Tsunami lösten in Fukushima am 11. März 2011 die größte Atomkatastrophe der westlichen Welt aus. Um herauszufinden, wie der AKW-Betreiber TEPCO mit der Katastrophe umgeht, nutzte Tomohiko Suzuki seine Kontakte zur Yakuza, der japanischen Mafia, die auch als Arbeitsvermittlerin agiert.  Als Aufräumarbeiter „Inside Fukushima“ war er wie seine Kollegen lebensbedrohlicher Strahlung ausgesetzt – ausgerüstet mit einer Monatsration Taurin, das die Strahlung bis zu einem gewissen Grad neutralisiert, und einem Strahlungsdetektor. Nach vier Wochen im Reaktor 1F wurde er als Journalist  enttarnt, weil er so viele Fragen stellte.

In diesen vier Wochen erfuhr er, dass größere Nähe zum Schauplatz nicht unbedingt mehr Einsicht in die Komplexität eines AKW verschafft.  Und doch gelingt es ihm in seinem Buch, die extremen Arbeitsbedingungen und den fahrlässigen Umgang mit der atomaren Verseuchung anschaulich zu machen. Bei sommerlicher Schwüle mit Schutzanzug und Maske Schwerarbeit verrichten, brachte auch ihn an seine Grenzen und an den Rand eines Hitzschlags. Ein Kollege starb daran. „Die Arbeiter hatten nur eine vage Vorstellung davon, wie gefährlich die Arbeit war, die sie verrichteten,  und bekamen auch keine aktuellen  Informationen.“ 

Manche Kollegen wussten zumindest vage, worauf sie sich einließen, und sahen es als eine Herausforderung an ihre Männlichkeit, sich in Gefahr zu begeben. Suzuki kam ihnen vor allem beim Essen in der Kantine und bei nächtlichen Saufereien in Karaoke-Bars nahe.

Wenig bekannt ist die Rolle der Yakuza, die ihr Geld inzwischen lieber mit legalen Geschäften als mit Drogen verdient. Atomkraftwerke, so vertraut ihm einer ihrer Bosse an, „sind ein Riesengeschäft“. Die mafiösen Vereinigungen verdienen an Subunternehmen und Arbeitern, die sie vermitteln. Im „Atomdorf“ rund um ein AKW sind sie fast unumschränkte Herrscher. Wer aufbegehrt, bekommt dort keinen Job mehr. Dass der Staat durch Gesetze und irreführende Propaganda dafür sorgt, dass Umwelt- und Gesundheitsbedenken aus dem Weg geräumt werden, macht die Sache nicht besser.

Suzukis Reportage fand im deutschsprachigen Raum lange Zeit weder Übersetzer noch Verlag. Es ist der Textinitiative Fukushima und dem Hamburger Alternativfestival Lesen ohne Atomstrom zu verdanken, dass sie jetzt auf Deutsch vorliegt. Günter Wallraff, der in seinem Vorwort seine eigene Undercover-Recherche als türkischer Leiharbeiter Ali in den 1980er Jahren im AKW Würgassen in Erinnerung ruft, zeigt sich solidarisch mit dem Anliegen, den „Wahnsinn der Atomindustrie“ am Beispiel von Fukushima aufzudecken.

Das Buch ist eine journalistische Reportage, stellenweise etwas grob gezeichnet, kein literarisches Werk. Aber die Lektüre lohnt sich auch sechs Jahre nach ihrem Erscheinen im japanischen Original. Denn die Fragen, die sie aufwirft, bleiben unbeantwortet.

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