Was mit Mikrokrediten wirklich passiert

Die Soziologin Becky Yang Hsu hat erforscht, wie arme Dorfbewohner im ländlichen China mit Mikrokrediten umgehen. Als Starthilfe für ein selbstbestimmtes Leben taugen sie demnach nicht.

Im Jahr 2004 reiste Becky Yan Hsu nach China, um für ihre Doktorarbeit an der renommierten US-amerikanischen Princeton-Universität zwei Mikrokredit-Programme zu untersuchen. Sie sprach mit unzähligen NGO-Mitarbeitern, Verwaltungsangestellten, Kadern der kommunistischen Partei und Dorfbewohnern. Ihre wichtigste Erkenntnis: Wenig von dem, was sich Geber oder Wissenschaftler am Schreibtisch ausdenken, stimmt mit der Realität überein.

Lange galten Mikrokredite als Wundermittel gegen Armut. Sie sollten breiten Bevölkerungsschichten ermöglichen, kleine Geschäfte aufzubauen. Der Kauf einer Nähmaschine oder von Nutztieren sollte den Ärmsten der Armen ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Auch die kommunistische Partei in China setzt seit den 2000er Jahren auf Mikrokredite, um Armut in ländlichen Regionen zu bekämpfen, schreibt Hsu.

Die Soziologin begleitete sowohl ein staatliches als auch ein von einer Hilfsorganisation durchgeführtes Mikrokredit-Programm. Informationen über die Träger oder wo genau die Projekte angesiedelt sind, erhält der Leser allerdings nicht, um ihre Interview­partner nicht in die Bredouille zu bringen. Nur so viel verrät Hsu: Die Empfängerinnen und Empfänger der Kredite leben in Dörfern mit bis zu tausend Einwohnern,  in Landstrichen mit einer hohen Armutsrate. Beiden Projekten widmet Hsu jeweils ein Kapitel. Das staatliche Programm orientiert sich am Modell der Grameen-Bank, einem 1983 vom bengalischen Wirtschaftswissenschaftler und Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus gegründeten Mikrokredit-Finanzinstitut. Danach werden die Kreditnehmer in kleine Gruppen aufgeteilt. Frisches Geld gibt es erst, wenn alle Gruppenmitglieder ihre bisherigen Schulden beglichen haben.

So soll sozialer Druck erzeugt werden, um sicherzustellen, dass die Geber nicht auf ihren Kosten sitzen bleiben. Im von Hsu untersuchten Fall erhielten Dorfbewohner, die hauptsächlich von der Viehzucht lebten, umgerechnet 125 US-Dollar, von denen sie alle zwei Wochen einen Teil zurückzahlen mussten.

Dabei bedachten die Architekten des Programms aber nicht, dass ein Schwein acht Monate braucht, bis es ausgewachsen ist und auf dem Markt gewinnbringend verkauft werden kann – zu lange, um die eng getakteten Rückzahlungsfristen einzuhalten. Deshalb werden Mikrokredite in der Region kaum genutzt, um unternehmerisch aktiv zu werden, beobachtet Hsu. Stattdessen liehen sich die Dorfbewohner Geld, um Engpässe durchzustehen, wie etwa den Krankenhausaufenthalt eines Verwandten. „Wir sind zu arm, um neue Ideen auszuprobieren“, zitiert die Soziologin einen Dorfbewohner.

Auch die komplexe Machtstruktur in den Dörfern sei ignoriert worden. Regierungsmitarbeiter, die für die Rückzahlung der Kredite verantwortlich sind, hätten bei einflussreichen Dorfbewohnern oft ein Auge zugedrückt, weshalb die Regierung auf vielen Krediten sitzen geblieben sei.

Das Programm der Hilfsorganisation sei besser an örtliche Gegebenheiten angepasst. Hier habe es in jedem Dorf einen Bewohner als Bürgen gegeben, der im Ernstfall offene Rückstände übernahm, betont die Autorin. Nicht eine anonyme Organisation bleibe im Ernstfall auf dem Geld sitzen, sondern ein guter Bekannter. So sei es unmöglich, nicht zu zahlen – kein einziger Kredit sei offengeblieben.

Doch auch hier hätten die relativ kurzfristigen Mikrokredite nicht dazu beigetragen, eigene Unternehmen aufzubauen. Dadurch, dass Hsu immer wieder Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner  ausführlich zu Wort kommen lässt, erhält man als Leser einen Eindruck davon, wie groß aufgelegte Hilfsprogramme tatsächlich  vor Ort ankommen. Grundsätzlich zeigt das Buch zudem, was passiert, wenn Entwicklungspolitiker an den Bedürfnissen und Machtstrukturen vor Ort vorbei planen.

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